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Writing

Fliederweg

Fliederweg - German short story by Anton Hoyer

In meinen Fantasien waren wir sechs Jahre alt geblieben, denn ich hatte sie seit der Vorschule nicht mehr gesehen. Genau genommen war mir nicht mehr als eine einzige Erinnerung an Janine geblieben: Sie hatte mich besucht, vermutlich ein Arrangement unserer Eltern. Sofort fand sie Gefallen an dem großen, violetten Pezziball, und wir verbrachten den Nachmittag im sonnengefluteten Erker des Wohnzimmers, die Eltern weit, weit weg oder sogar außer Haus. Janine war blond und sehr blass, und wenn ich sie mir vorstellte, hörte sie nie auf zu lächeln. Außerdem hatte sie eine Krankheit, von der ich nicht viel mehr wusste, als dass sie davon wunde Stellen unter beiden Augen bekam: zwei kleine, pinke Entzündungen, die mich heimlich Bilder malen ließen, auf denen ich Janine in meinem Hass Gewalt antat, dann wieder großes Mitgefühl in mir erzeugten, wenn Kinder zu so etwas fähig sind. Ich habe nach den Symptomen gegoogelt, leider erfolglos, denn die Ergebnisse waren um einiges ekelhafter als ihre Krankheit, die ihr doch ein gewisses Etwas gab.

Vielleicht war es das Spiel mit dem Gummiball, vielleicht die Abwesenheit meiner Eltern, ich weiß nicht einmal mehr, ob es meine oder Janines Idee war, jedenfalls spielten wir: Du zeigst mir deins, ich zeig dir meins. Sie stieg für mich aus ihrer Latzhose, dann aus dem Schlüpfer, und ich ahnte nicht im geringsten, dass sich der Anblick ihrer zarten Möse im goldenen Nachmittagslicht auf ewig bei mir einbrennen würde. Zunächst war ich zutiefst schockiert und floh aus dem Zimmer, doch ich kehrte zurück, um ihr auch meins zu zeigen. Wir berührten einander nicht, das verstand sich von selbst. Es war nicht das letzte Mal, dass ich dieses Spiel mit einem Mädchen trieb, aber es sollte das letzte Mal sein, dass ich das Mädchen hinterher nicht um meinen Teil der Abmachung prellte.

Eineinhalb Jahrzehnte später, in denen ich zwanghaft versucht hatte, mich selbst mit anderen Mädchen zu betrügen, wurde mir klar, dass ich was ändern musste. Ich googelte Janine Falkner Berlin. Die Suchmaschine hieß anders, aber im Hintergrund rief sie Google über einen Proxy auf, ich wollte weniger Spuren im Netz hinterlassen. Portraits unzähliger Menschen lachten mir entgegen: Schauspielerinnen, Fußballerinnen und natürlich Leute mit Greifvögeln. Wenn sie wie ich Abitur gemacht hatte, fand ich vielleicht eine Namensliste ihres Abijahrgangs, was mir fürs erste genügt hätte. Ich setzte Anführungszeichen um ihren Namen und bekam nur noch siebzehn Bilder, auf dreien war eine Frau abgebildet, sie war schwarz. Was hatte ich mir denn vorgestellt? Es wäre so einfach gewesen, wenn ich die Klassenliste von damals gefunden hätte, aber meine Eltern hatten sie wohl weggeworfen.

Ein paar Tage später googelte ich sie erneut. Ich hatte eine ungefähre Vorstellung, wo in Steglitz sie damals gewohnt hatte, musste selbst einmal dort gewesen sein, wahrscheinlich auf ihrem Kindergeburtstag, also googelte ich Janine Falkner 12169 Berlin. Auf Seite vier fand ich einen Yelp-Eintrag zu Eisenwaren Robert Falkner, direkt am Steglitzer Damm gelegen, leider ohne Mitarbeiterfotos. Ich hatte keine Ahnung, wie ihr Vater mit Vornamen hieß oder als was er damals gearbeitet hatte, aber ich hätte ihn jederzeit wiedererkannt mit seinem Walrossschnauzer, seiner Glatze und den runden Brillengläsern. Donnerstags geöffnet bis 18 Uhr, mir blieben noch zwei gute Stunden, um meinem Glück auf die Sprünge zu helfen, also fuhr ich mit der S-Bahn nach Steglitz.

Wie ich durch die Straßen meiner Kindheit ging, kam mir alles viel kleiner vor als damals. Auch auf Google Maps wirken Distanzen viel größer als in Wirklichkeit, und so stand ich schneller vor dem Eisenwarenladen, als ich mir gewünscht hätte, um eine plausible Ausrede für meinen Besuch zu erfinden. Kurzerhand trat ich ein, und eine elektrische Türglocke erklang. Der Mann hinterm Tresen schaute von seiner Zeitschrift auf. Mein Herz setzte aus, denn alles stimmte: der Schnauzer, die Glatze, sogar die Brille. Genau wie die Nachbarschaft kam er mir kleiner vor als damals.

»Guten Abend.«

»Juten Abend, wat kann ick für Sie tun?«

Ich schaute mich um, als wüsste ich genau, was ich wollte, und suchte es in den Regalen.

»Ich, öh . . . haben Sie Kabelbinder?«

»Nee, dat is’n Eisenwarenjeschäft. Schlauchklemmen hätten wa.«

»Egal. Dann nehm ich zwei Meter Stahldraht, drei Millimeter stark bitte.«

»Nullachfuffzehn, verzinkt oder extra-tension?«

»Extra-tension klingt gut.«

Robert Falkner nickte und schnitt mir den Draht zurecht.

»Es gibt nicht mehr viele Läden wie diesen hier«, meinte ich beiläufig.

»Jap, leider . . . dat meeste jibt’s heute in Baumärkten. Die könn’s sich leisten, immer ’n paar Fennich bill’jer zu sein, dafür ham’ die Fritzen da von nüscht ’ne Peilung. Wenne Beratung willst, kommste hierher.«

»Der Laden gehört Ihnen?«

»Jehört den Falkners schon seit drei Jenerationen, aber ick werd der letzte sein.«

»Wegen der Baumärkte?«

»Nee, wejen meiner Tochter. Kann’s ihr nich übel nehm’, dasse keen Bock hat, ’nen krepierenden Laden zu übernehmen, aber ick hab nur die eene.«

»Das muss schwierig sein für die Eltern, wenn die Kinder ihre eigenen Ideen entwickeln.«

»Och, ick bin nich unzufrieden . . . sie macht Bürokooffrau und kann sich jetz schon ihre eijene Butze leisten.«

»Sie wohnt nicht mehr zu Hause? Schaut sie denn oft vorbei?«

»Je’n Sonntach, is’ne jute Tochter. Kann ick sonst noch wat für Sie tun?«

»Hmm . . . ich bräuchte noch was von dem Stahl da.«

»Bringse det mal rüber, ick schneid Ihn’ wat ab.«

Ich zog einen Stahlstab vom Durchmesser einer 20-Cent-Münze aus dem Ständer, er war wie erhofft sehr schwer.

»Wie viel wollnse’n ham’?«

»Vierundzwanzig Zentimeter.«

»Wat hamse eijentlich vor, wenn ick frajen darf?«

»Ich . . . ich will eine Gardine aufhängen.«

»Da hätt’ ick Ihn’ ooch ‘n fertijet System anbieten könn’.«

»Bloß nicht, ich bastle gerne.«

»Na jut, det will ick unterstützen. Machense ma kurz die Lauscher zu—«

Ich hielt mir die Ohren zu, und er ließ die Standsäge aufkreischen.

»Det macht dann vier-sechsenachzich bidde.«

»Hier, behalten Sie den Rest. Ich mag Ihren Laden.«

»Falkner dankt, ick wünsch Ihn’ frohet Schaffen mit Ihre Jardine!«

Draußen schaute ich auf die Uhr: noch eine Stunde bis Ladenschluss. Ich ging zu Eis-Hennig und bestellte Joghurt und Waldmeister in genau dieser Reihenfolge, damit mein Favorit im Becher unten landete, dann setzte ich mich raus auf den Steglitzer Damm, las meinen Süskind und wartete.

Falkner verließ seinen Laden pünktlich um fünf nach sechs. Er schloss ab, zog das Faltgitter vor die Tür und schloss auch dieses ab, dann stiefelte er los. Ich hoffte, dass er kein Auto hatte, denn dann wär das Warten für die Katz gewesen, und ich hätte am nächsten Tag mit dem Motorrad wiederkommen müssen, für das ich nichtmal einen Führerschein hatte, doch Falkner blieb Fußgänger. Hätte er sich umgedreht, hätte er mich nicht erkannt, denn ich folgte ihm mit gebührendem Abstand und hatte die Sonne im Rücken. Kurz vor Bahnhof Südende betrat er die Sembritzkistraße, und ich ging fortan auf der anderen Straßenseite, wo mich die parkenden Autos besser verbargen. Als wir in den Oehlertring einbogen, hatte ich ein so starkes Déjà-vù, dass ich beinahe aufgeflogen wäre, denn ich ging weiter, obwohl er nach wenigen Schritten vor einer Haustür stehengeblieben war. Das Reihenhaus sah noch genauso aus wie in meinen Erinnerungen, nur etwas kleiner. Falkner schloss auf und verschwand im Treppenhaus, die Tür fiel ins Schloss. Wenn die Klingelschilder richtig angebracht waren, wohnten die Falkners im Hochpaterre, auch das deckte sich mit meinen Erinnerungen. Ich wartete ein paar Minuten lang, dass sich was tat, dass jemand die Gardinen in der Küche teilte und auf mich aufmerksam wurde. Hier konnte ich heute nichts mehr reißen, also fuhr ich nach Hause. Die Abendsonne in der S-Bahn war fast so golden wie damals im Erker. Vielleicht war ich Janine in der Zwischenzeit mehrmals begegnet, ohne es zu merken, denn sie konnte eine erwachsene Frau geworden sein.

Freitag Nacht traf ich mich mit dem Bekannten eines Bekannten in der Hertzallee hinterm Bahnhof Zoo. Ich fragte mich, warum wir uns genau hier treffen mussten, wo die Polizei doch nur ein paar Meter die Straße runter saß, aber das war wohl der Witz an der Sache: je auffälliger, desto unauffälliger. Wir waren beide pünktlich, und ich erkannte ihn sofort, obwohl ich nicht wusste, wie er aussah, denn die Straße war ansonsten wie leergefegt. Er ging nervös auf und ab, trug eine schwarze Lederjacke und auf der Wange ein dürftig-gepflegtes Klischee von Narbe. Ein Bilderbuch-Bandit, aber auch hier galt wohl: je auffälliger, desto unauffälliger, umgekehrt natürlich genauso.

Ich sprach ihn an: »Du heißt nicht zufälligerweise Joe-Joe?«

Er grinste und sagte: »Doch, für dich heiß ich Joe-Joe.«

»Gut. Wie machen wir das?«

Joe-Joe musterte mich von oben bis unten und kam zu dem Ergebnis, dass ich ein harmloser Student der Informatik sein musste und er mich mit links zusammenfalten würde, wenn ich ihm irgendwie dumm käme.

»Ich geb dir den Stoff, du gibst mir die Knete, ich zähl kurz nach, und wir machen uns beide ’nen bunten Abend.«

Natürlich räumte sich Joe-Joe das Recht ein, meine Scheine zu zählen, aber hätte ich mir das Recht eingeräumt, seinen Stoff zu wiegen, hätte er ein Fass aufgemacht. Es gab ohnehin nicht viel zu zählen, denn für sein Päckchen gab ich ihm zwei grüne Scheine.

»Perfekt. Ich hab dir zehn Prozent Bonus reingetan, weil du ‘n Kumpel von Manu bist.«

»Danke. Cool, dass das so kurzfristig geklappt hat.«

Wir schlugen ein, und ich war schon wieder in Richtung Zoo unterwegs, da rief er mir nach: »Ich hoffe, du verkaufst was weiter. Wenn du es testest, nimm höchstens ein Zehntel von dem Päckchen . . . wenn du’s noch nie genommen hast, nimm noch weniger.«

Ich hob den Daumen und hoffte, dass ich ihn nie wieder sehen würde.

Im McDonalds hielt ich es bis Mitternacht aus, dann war mir der Geruch von ranzigem Fett und schwitzenden Menschen so zuwider, dass ich raus an die frische Luft musste. Draußen der archetypische Gestank von Pisse, also zog es mich in Richtung Tiergarten und zum Landwehrkanal, vorbei am Kamelgehege, den Rindern und dem Streichelzoo. Weil Spätfrühling war, lümmelten überall Penner, gröhlten und zankten über halbe Zigaretten und andere Lappalien, aber keiner scherte sich um mich. Auf der anderen Seite der Schleuse verflüchtigten sich die Ungerüche von Fauna und Fäkalien allmählich, übrig blieb der satte Frühlingsduft, der mich hergeführt hatte. Meine Nase ist nicht die beste, aber eine Komponente konnte ich unter all den anderen identifizieren, jederzeit und überall: Flieder. Mein Lieblingsaroma und sogar meine Lieblingsfarbe. Ich setzte mich auf die Lehne einer Bank, denn wer wusste schon, was zuletzt auf der Sitzfläche gesessen oder gelegen hatte.

»Ey, haste Pfand für mich?«

Der Penner, der mich aus meinem Fliedertraum riss, trug vier Ikea-Tüten voller Flaschen und schielte mich so glasig an, dass er sie nur selbst geleert haben konnte. Sein Gestank war moderat.

»Garantiert«, meinte ich und öffnete meine Tasche. »Oh ja, einiges! Komm mal her.«

Er stellte die Tüten auf den Kiesweg und torkelte zu mir rüber. Was ich ihm gab, war etwa doppelt so schwer wie eine leere Bierflasche, ich gab es ihm schnell und meines eigenen Körpers bewusst. Ich beugte mich zu ihm hinunter und vergewisserte mich, dass er atmete. Er schnarchte sogar, also wünschte ich ihm gute Nacht und fuhr nach Hause.

Den Sonnabend verbrachte ich in der Laube meiner Eltern, denn das Wetter hielt an, und ich musste dafür sorgen, dass alles an Ort und Stelle war. Die Kleingartenkolonie Sonnenbad lag unweit nördlich vom Haus der Falkners, man hätte hinlaufen können, aber was hätte es mir gebracht? So lag ich nur im Liegestuhl auf der Terrasse, sah den Hummeln bei ihrem emsigen Treiben zu und dachte an Janine. Früher war ich oft zum Kiffen hergekommen, aber seit ich nichts mehr fühlte, kam ich nur noch her, um von Janine zu träumen. Es gefiel mir, den Garten der Natur zu überlassen, und obwohl mich Rasenmäherlärm oder Grillgeruch aus den Nachbargärten oft eines besseren belehrten, mochte ich inmitten meines wilden, farbenprächtigen Gestrüpps manchmal denken, dass wir der letzte Mensch und die letzte Kleingartenlaube auf Erden waren. Weil es sich nicht lohnte, nach Hause zu fahren, blieb ich für die Nacht.

Am Sonntag stand ich früh auf, wusch mich und ging zum Haus der Falkners. Ich fand ein ideales Plätzchen: einen Streusalzcontainer, keine fünfzig Meter vom Eingang entfernt, ließ mich im Schneidersitz darauf nieder und schlug meinen Süskind auf. Nach dem fünften Mal Lesen hatte ich aufgehört mitzuzählen, doch je häufiger ich es verschlang, desto weniger reizten mich die anderen Bücher. Ich las es jeden Tag, auch vormittags unter der Woche, weil ich wegen der Vollwaisenrente nicht arbeiten musste, und war mittlerweile sicher, dass ich mehr über das Buch wusste als Süskind selbst. Von Zeit zu Zeit blickte ich auf und hielt Ausschau nach Passanten, aber ich kam gut voran und war schon halb durch, als ich sie gegen drei Uhr endlich sah. Sie kam vom Steglitzer Damm.

Dass es Janine war, wusste ich erst, als sie im richtigen Haus verschwunden war, und so war mir nicht viel mehr an ihr aufgefallen als ein schwarzes Top, eine dunkelblaue Jeans und ein blonder Pferdeschwanz. Zwei Minuten später wurde der Vorhang in der Küche aufgezogen, aber mein Blickwinkel ließ nicht zu, dass ich die Personen dahinter sah, und näher traute ich mich nicht ran. Was sie wohl denken würden, wenn ich jetzt einfach klingelte? Nein, das war nicht ich. Stattdessen zwang ich mich, mein Buch zu lesen, aber ich hatte die Wörter zu oft aufgesogen, als dass sie nun hängen blieben. Ständig schweiften meine Gedanken ab und durch das Küchenfenster der Familie Falkner, bis ich es schließlich ganz und gar aufgab und das Buch zuklappte. War sie dick geworden? Prollig, dämlich, fies? In der Vorschule wurden alle Kinder in einen Topf geschmissen, die Spreu erst später vom Weizen getrennt, nach der vierten oder sogar sechsten Klasse. Sie konnte nicht fies sein, wenn sie ihre Eltern jeden Sonntag besuchte, denn ich war nicht sicher, ob ich es getan hätte. Obwohl es ein milder Frühlingstag war, begann ich zu zittern. Noch war es nicht zu spät, ich hätte nach Hause fahren können oder zurück in die Laube, aber ich blieb und allmählich kam ich wieder zur Ruhe.

Drei Stunden später kam sie raus und schlug die Richtung zum Steglitzer Damm ein. Ich steckte meinen Süskind ein und eilte ihr nach, aber sie war nicht besonders schnell, und bald ging ich direkt hinter ihr. Ein bisschen dicklich war sie, aber alles noch im Rahmen, und ihr Gang war sehr weiblich. Ich setzte zum Überholen an. Hallo schöne Frau, kann man dich kennenlernen? Bist du häufiger hier? Ich hab einen Kleingarten ganz in der Nähe, lass uns doch hingehen, ich werd dich sehr glücklich machen. Und dann, kurz vor unserem gemeinsamen Höhepunkt, würde ich mich zu erkennen geben, damit sie von unserer Bestimmung erfuhr.

Sie trug eine Brille und blickte stur geradeaus, ich musste mehrere Meter neben ihr laufen und sie direkt anstarren, bis sie mir ihre Aufmerksamkeit schenkte. Sie erkannte mich nicht, ihr Blick war geradezu unfreundlich, ich aber legte all mein Leiden in mein Lächeln und fragte: »Hey, bist du nicht Janine? Janine Falkner?«

»Ja?«, fragte sie zurück, ohne stehenzubleiben.

»Ich glaube, wir waren in einer Vorschulklasse.«

Endlich hielt sie an, wir mussten ja eigentlich in die andere Richtung, und suchte mein Gesicht nach charakteristischen Merkmalen ab. Ich konnte regelrecht spüren, wie ihre Gedanken durch die Fragmente der Klassenliste ratterten, die sie behalten hatte. Sie war nur mäßig hübsch, zu meinem Missfallen auch stark geschminkt, die Entzündungen unter den Augen übermalt oder längst verheilt. Gleichzeitig hatte sie einen Hauch von Reife an sich, mit dem ich nicht gerechnet hatte. Das sechsjährige Mädchen war lange, lange verpuppt und neu geschlüpft.

»Flo? Florian Krug?«

»Bingo.« Mein Lächeln war echt. Hätte sie mich nicht erkannt, wären wir vielleicht doch noch getrennter Wege gegangen.

»Das ist ja der Hammer!«, lachte sie und schlang die Arme um mich. Ich mochte ihr Parfum nicht, es roch billig, synthetisch und vor allem gewöhnlich. Ich hatte es schon tausende Male in der Bahn auszublenden versucht.

»Was machst du hier, Flo? Wohnst du noch in der Gegend?«

»Leider nicht, ich bin zu meiner Tante nach Lichterfelde gezogen. Hab hier einen Kumpel besucht, dich gesehen, mich erinnert, dass du hier mal wohntest, und eins und eins zusammengezählt.«

»Du musst ja echt ein phänomenales Gedächtnis haben. Ich wohn hier übrigens auch nicht mehr, war nur zum Essen bei meinen Eltern. Wohnen deine noch hier?«

»Meine Eltern sind tot.«

»Oh. Das tut mir leid. Wollen wir kurz zu Eis-Hennig? Ich muss eh in die Richtung und würde dich einladen.«

»Klar«, meinte ich.

Ich bestellte Joghurt und Blaubeere, wie immer meine Lieblingssorte nach unten und obendrauf eine Sorte, die ich selten nahm. Sie wollte dasselbe haben, und wir setzten uns raus. Wir sprachen nicht über meine Eltern sondern über uns selbst, vor allem welche Schulen wir in der Zwischenzeit besucht und was für Fächer wir gemocht hatten, aber immer wenn sie einen Blick auf ihr iPhone warf, spürte ich, dass das nicht das Wahre war und mir die Zeit durch die Finger rann. Ich fragte: »Buffst du?«

»Du meinst Gras? Naja, manchmal.«

»Ich würd jetzt wirklich gerne einen rauchen.«

Sie schaute sich auf dem Gehsteig um und zuckte mit den Schultern.

»Mach doch einfach.«

»Das Problem ist, dass ich mein Zeug in der Gartenlaube meiner Eltern gelagert hab.«

»Tja, Pech gehabt.«

»Die liegt in der Kolonie Sonnenbad, also echt nicht weit von hier. Kommst du mit?«

»Ich weiß nicht, eigentlich bin ich heute noch verabredet. Können wir das nicht ein andern Mal machen? Ich geb dir meine Nummer.«

Schon hielt sie wieder ihr iPhone in der Hand.

»Ich flieg morgen nach Taiwan«, log ich. »Für ein Jahr. Deshalb muss ich auch diesen Joint rauchen, in Taiwan steht darauf locker Todesstrafe. Wir können die S-Bahn bis Priesterweg nehmen.«

»Hmm . . . na gut. Was machst du in Taiwan?«

Auf unserem Weg zum Bahnhof Südende log ich ihr das Blaue vom Himmel herunter.

Als ich das Gartentor aufschloss, spürte ich erste Bedenken ihrerseits, aber Janine folgte mir bedingungslos und beließ es bei einem: »Hier müsste mal jemand den Rasen mähen . . . und die Hecken schneiden. Du bist nicht oft hier, oder?«

»Absolut richtig«, log ich.

Dass sie meinen Garten nicht mochte, passte zu ihr. Ich schloss die Laube auf, und wir traten ein. Drinnen war sie so sehr damit beschäftigt, die winzige Stube zu inspizieren, dass ihr gar nicht auffiel, wie ich das Vorhängeschloss auf der Innenseite anbrachte. Es war heiß, roch nach Schaumstoff und Pressspan, und über der abgewetzten Couch tanzten Fusseln in einem schmalen Streifen Sonnenlicht. Ich zog eine Schublade aus dem Kochschränkchen und nahm mein Gras heraus. Janine fragte: »Wollen wir wieder rausgehen?«

»Lieber nicht, ich will nicht, dass die Nachbarn wissen, dass ich kiffe.«

Sie sah mir schweigend zu, während ich in Windeseile einen Joint rollte und ihn ansteckte. Sie nahm ihn zögerlich, zog kaum und wollte ihn auch kein zweites Mal. Es war offensichtlich, dass sie sich nicht mehr wohl fühlte. Ich drückte den Joint in den Ascher und meinte: »Ich geh kurz was holen, okay?«

»Was denn?«

»Wirst du gleich sehen.«

Ich ging in den Flur und tastete mit den Fingern über das Regalbrett über der Garderobe. Das kurze Stück Stahl, das ich bei ihrem Vater gekauft hatte, war noch genau dort, wo ich es gestern deponiert hatte.

»Janine? Erinnerst du dich an ein Spiel, das wir damals gespielt haben?«

Sie schüttelte den Kopf und meinte: »Ich glaube, ich möchte jetzt gehen.«

»Du zeigst mir deins und ich zeig dir meins?«

Janine sprang auf und ging zur Tür. »Ich hab einen Freund, Flo! Viel Spaß in Taiwan!«

Natürlich hatte sie nicht mit dem Vorhängeschloss gerechnet. Ich wog den Stahl in meiner Hand, wie ich es getan hatte, bevor ich dem Penner gute Nacht gewünscht hatte, fand den Schwerpunkt, spürte sein Gewicht und seine Charakteristik.

»Lass mich raus, du Arschloch! Bitte! Flo! Flo?! Nein! NEIN!«

Ich legte sie auf den Fliesentisch vor der Couch. Der Penner hatte nicht geblutet, aber vielleicht hatte er einen härteren Schädel als Janine, denn an ihrer Schläfe bildete sich ein feines Rinnsal und tropfte auf die Fliesen, doch sie atmete. Ich sog ihren Duft ein und verzog das Gesicht. Gewöhnlich, künstlich, billig. Kurzerhand schloss ich die Tür wieder auf, erntete draußen im Garten allen Flieder und breitete ihn überall in der Laube und auf Janine aus. Die Farbe stand ihr, genau wie der Duft, und wie ich sie untenrum entkleidete, fand ich das Mädchen aus meinen Träumen wieder. Natürlich zeigte ich ihr meins, nachdem ich mir ihres genau angeschaut hatte, aber es erfüllte mich nicht, und ich begann zu weinen, während ich es tat, bis ich endgültig abbrechen musste. Was war schiefgelaufen?

Ich nahm Joe-Joes Päckchen aus der Schublade, riss es auf und häufte alles auf einen Esslöffel, den ich über einem Teelicht erwärmte. Die Drahtschlinge lag unangerührt auf der Garderobe. Robert Falkner hatte nicht verdient, dass seine gewöhnliche Tochter auf einem geschmacklosen Fliesentisch verblutete, wenn auch mit der schönsten aller Blüten dekoriert, aber ich konnte ihr ohnehin nicht mehr helfen. Also nahm ich mit der freien Hand mein Handy und drückte vier Tasten.

»Hier spricht die Polizei, wie können wir Ihnen helfen?«

»Ein Mädchen . . . sie ist bewusstlos und blutet am Kopf.«

»Wo?«

»Kleingartenkolonie Sonnenbad, Fliederweg Nummer zehn.«

»Und Sie sind?«

»Jean-Baptiste Grenouille.«

Ich legte auf.

Das flüssige Heroin füllte ich in eine Spritze. Kurz bevor ich mir einen Schuss goldener als die untergehende Nachmittagssonne setzte, nahm ich eine Fliederblüte von Janines Bauch und roch an ihr, versuchte ihre Farbe wertzuschätzen. Kleine schwarze Punkte saßen auf dem Stängel: Blattläuse. Sie störten mich nicht, denn das Leben fand seinen eigenen Weg in meinem wilden, farbenprächtigen Garten. Gute Nacht, Janine. Die Polizei kam entweder zu spät oder nie.

© 2017 Anton Hoyer

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