Am Anfang war das Alienum. Am Ende war das Alienum immer noch. Und was dazwischen geschah, soll hier geschildert werden. Nicht plausibel, denn das Alienum hatte wenig mit Vernunft zu tun. Auch nicht aufregend, denn das Alienum tat nichts außer zu sein. Erst recht nicht komisch, denn das Thema ist todernst. Also lasst es euch als Warnung dienen.
Einer hüpfte durch die Steppe und stieß auf einen Pfuhl voller Alienum. Doch wäre es falsch, von einem Pfuhl zu sprechen, denn das Alienum war nicht flüssig. Auch war es weder festes Erz noch flüchtiges Gas, weder Dampf noch Rauch noch Plasma, weder rein materiell noch rein ideell. Einer stieß also mitten in der Steppe auf ein Vorkommen des Alienums und hätte es beinahe verfehlt, da es unsichtbar war und sich weder warm noch kalt anfühlte, obwohl Einer mit seinem Bein mitten hineinhüpfte.
Wie Einer überhaupt bemerkte, dass er plötzlich in einem Vorkommen des Alienums stand? Keiner wusste es. Vermutlich überkam ihn die Idee, am rechten Fleck innezuhalten, sich hinunterzubeugen und seine Hand nach dem Alienum auszustrecken. Er fuhr hinein und schloss sie zur Faust und spürte, dass er mehr als bloß seine Finger festhielt. Einer spürte es nicht, Einer wusste es einfach.
Ebenfalls unbekannt ist, wie oder warum Einer zum ersten Mal das Alienum einnahm. Denn was geruchlos und frei von Geschmack ist und überhaupt keine Textur hat, kann kaum zum Konsum auffordern. Trotzdem nahm Einer das Alienum zu sich und hatte alsbald den Einfall, das ganze Vorkommen zu konsumieren. Er schöpfte und schöpfte, atmete das Alienum ein und leckte es sich vom Handteller, doch was weder greifbar noch physikalisch, weder konkret noch abstrakt ist, das kann gar nicht verstoffwechselt werden.
So merkte Einer rasch, dass das Alienum trotz seiner Bemühungen nicht weniger wurde. Daher kam ihm der Gedanke, sich Hilfe zu holen, denn sein Dorf lag unweit entfernt und Einer hatte vor, seine Entdeckung mit den Anderen zu teilen.
Kaum daheim, trommelte er eine Handvoll Anderer zusammen und erzählte ihnen vom Alienum: »Weder konnte ich es sehen noch spüren, geschweige denn essen oder trinken, und dennoch hat es mich genügend fasziniert, euch davon zu berichten.«
»Wie nimmt man es dann zu sich?«, wollte ein Anderer wissen.
»Gar nicht«, entgegnete Einer.
Zu Recht waren die Anderen ungläubig: »Wenn es wirklich so interessant ist, wie Einer behauptet, warum hat er uns nichts davon mitgebracht?«
»Weil ich es nicht transportieren konnte«, beteuerte Einer. »Aber was mir nicht geglückt ist, mag vielleicht einem Anderen gelingen.«
Dem stimmten die Anderen zu, denn unter ihnen war Einer nicht als ein besonders Heller bekannt. Insgeheim hielten sie ihn sogar für einen Tollen. Um sich also nicht zum Gespött der Anderen zu machen, verkündeten sie: »Wir wollen Einem zur besagten Stelle folgen, um uns selbst ein Bild zu machen. Sollte Einer sich allerdings einen Spaß mit uns erlaubt haben, oder sollten wir gänzlich unbeeindruckt bleiben, werden wir Einen steinigen.«
»So soll es sein«, stimmte Einer zu.
Da waren die Anderen sprachlos, hatten sie doch fest damit gerechnet, dass sich Einer eher als Aufschneider zu erkennen gab, als so leichtfertig sein Leben aufs Spiel zu setzen. Somit war ihnen Unterhaltung gewiss. Doch in seinem Auge sahen sie weder Wahn noch Furcht, nur Entschlossenheit, unverzüglich aufzubrechen.
Eine Handvoll Anderer bekam kaum Gelegenheit, sich mit allerlei Werkzeug auszurüsten und noch ein paar Steine mit beizulegen, ehe Einer wieder hinaus in die Steppe hüpfte. Die Anderen folgten mit ein wenig Abstand, um sich auszutauschen: »So ein Humbug. Unsere Leichtgläubigkeit wird uns teuer zu stehen kommen.«
»Einem von uns gewiss«, höhnte ein Anderer.
»Sollten wir wirklich Einen von uns töten?«, wollte eine Andere wissen.
»Nur, wenn Einer die Stelle nicht mehr wiederfindet«, entschied ein Anderer.
»Doch selten hab ich Einen so klar erlebt«, stellte eine Andere fest.
Einer hatte keine Schwierigkeiten, das Vorkommen des Alienums in der weiten Steppe wiederzufinden, da es einen unbeschreiblichen Sog auf ihn ausübte, kaum dass sie das Dorf hinter sich gelassen hatten.
»Hier ist die Stelle!«, verkündete Einer schließlich, hätte es aber nicht zu tun brauchen, weil die Anderen es ganz von selbst bemerkten. Schon standen sie mit dem Bein im Alienum, ruderten mit der Hand darin herum, hüpften umher und versuchten, es auf die eine oder andere Weise zu konsumieren.
»Genau wie Einer beschrieben hat!«, riefen die Anderen.
»Unbeschreiblich!«, erwiderte Einer, ehe er erneut zu Einem der Anderen wurde. Denn obgleich ihm der Zauber des Alienums zuerst zuteil geworden war, sollte es nicht sein Privileg bleiben.
Kaum bestand kein Zweifel mehr, dass das Alienum existierte, versuchten die anderen, es mit dem Spaten auszugraben und in Eimer zu füllen. Leider blieb das Alienum substanzlos, so dass man ratlos war, ob es nicht ungesehens entwich. Keiner wollte mit leeren Eimern zurückkehren und sich zum Gespött des Dorfes machen.
Letztendlich kam einem Anderen die Idee, jeden Eimer mit einer geölten Tierhaut abzudecken und fest mit Seilen zu umschnüren. Denn sobald man nicht mehr hineingucken konnte und auch nicht wusste, ob und wann genau das Alienum austreten würde, befand es sich zugleich innerhalb wie außerhalb des Eimers, so dass statistisch betrachtet mindestens die Hälfte im Eimer bleiben musste. Die Anderen einigten sich darauf, lieber nur eine Hälfte ins Dorf zu transportieren als keine.
Mit halbvollen Eimern machten sie sich auf den Rückweg und sinnierten bereits über mögliche Verwendungszwecke des Alienums: »Vielleicht macht es furchtlos?«
»Dann ist es gut, dass wir das Vorkommen vor unseren Feinden entdeckt haben«, überlegte ein Anderer.
»Und wenn sie es längst gefunden haben?«, fürchtete eine Andere und widerlegte somit die Annahme, dass das Alienum furchtlos machte.
»In jedem Falle stimmt es euphorisch«, schlug ein Anderer vor. »Seht, wir waren sofort hin und weg und können kaum erwarten, es mit den Anderen im Dorf zu teilen!«
Noch vor Einbruch der Dunkelheit kehrten die Anderen zurück und ließen den Dorfrat tagen. Alt und Jung, Groß und Klein, Neugierig und Misstrauisch scharten sich um die Eimer, um zu sehen, was sich darin befand. Selbstverständlich sahen sie das Alienum nicht, und die hinteren Reihen empörten sich zunächst über das Gewese. Doch wer auch nur einen Körperteil hineinsteckte, wurde umgehend vom Wissen überwältigt, dass das Alienum existierte.
»Es macht übrigens weder Geräusche, noch dämpft es den Schall«, stellte ein Anderer fest.
»Zieh deinen Kopf heraus!«, drohten die Anderen. »Geschwind, bevor du es verdrängst!«
»Wir können jederzeit Nachschub holen.«
»Wer weiß, wann das Vorkommen erschöpft ist. Wir sollten sparsam damit umgehen. Wozu auch immer es gut ist, es wirkt sehr kostbar.«
Kurzerhand entschied ein Anderer, welcher der Dorfhäuptling war: »Gleich morgen früh wollen wir losziehen und uns alles unter den Nagel reißen. Jede Hand und jeder Eimer sind gefragt. Die Nacht werden wir damit verbringen, in der Dorfmitte eine Grube auszuheben und sie mit Tierhäuten abzudecken. Dort hinein werden wir alles schütten, und wer nur einen Tropfen vergießt, soll auf der Stelle zu Tode gesteinigt werden!«
Zwar zweifelten die Anderen daran, dass das unflüssige Alienum in Tropfen bemessen werden konnte. Außerdem stellten sie infrage, ob ein versehentliches Vergießen überhaupt jemandem auffallen würde. Dennoch machten sich die Anderen umgehend daran, dem Alienum ein Reservoir auszuheben.
Als der Morgen endlich graute, maß die Grube bereits mehr Grundfläche, als man Tierhäute im Dorf besaß, also ging man in die Tiefe. Während sich ein paar der Anderen mit dem Graben, Schlachten, Häuten, Gerben und Einölen befassten, zogen die meisten hinaus in die Steppe und hüpften zu dem Ort, wo die Anderen am Vortag auf das Alienum gestoßen waren. Nebst Eimern führten sie Schläuche, Beutel und allerlei feste Behälter mit sich, die meisten davon abgedichtet und undurchsichtig.
Kaum stand der Häuptling der Anderen mitten im Alienum, kam ihm ein Gedanke, den er mit den Anderen teilen musste: »Es ist phänomenal, aber es ist viel zu viel! Wir sollten ein Aquädukt bauen und alles ins Reservoir pumpen, anstatt es händisch ins Dorf zu tragen.«
»Es verhält sich doch ganz anders als Wasser!«, boten die Anderen ihm die Stirn. »Wir wissen nicht, ob es sich pumpen lässt. Außerdem würden wir durch den Bau gewiss die Aufmerksamkeit unserer Feinde auf uns ziehen.«
Ein Anderer, der ebenfalls mitten im Alienum stand, überschlug im Kopf: »Darüber hinaus würde ein solches Rohrsystem mehr Rohstoffe, Zeit und Arbeitskräfte erfordern, als wir in zwölf Jahren erübrigen könnten.«
Der Häuptling war kein Narr, doch hatte er bereits sehr lange im Alienum gestanden, als er schließlich verkündete: »Dann bleibt uns nur eine einzige Möglichkeit: Wir müssen ein neues Dorf bauen und das alte verlassen. Diese heilige Stätte hier soll fortan das Zentrum der Anderen werden. Um das Vorkommen herum werden wir konzentrische Mauern gegen unsere Feinde bauen, dazwischen Häuser und Gärten für uns. Und für mich einen Palast.«
Obwohl der Häuptling keineswegs so viel Einfluss besaß, ein solches Vorhaben alleine zu entscheiden, stimmten ihm alle Anderen zu, die mit ihrem Bein im Alienum standen. Sie fragten sich, warum sie nicht schon gestern auf die Idee gekommen waren, das Dorf ins Alienum zu tragen anstatt umgekehrt. Somit hätten sie sich das mühselige Ausheben der Grube erspart und längst mit dem Bau des neuen Dorfes beginnen können.
Anderen hingegen fiel auf, dass man einander selten so einstimmig begegnet war. Ihnen wurde klar, dass der Hauptzweck des Alienums die Vereinigung der Anderen sein mochte. Allerdings sei im Sinne der Weder-Noch-Natur des Alienums bereits an dieser Stelle erwähnt, dass die Anderen keine Ahnung hatten, was ihnen blühen sollte.
Sofort machten sich die Anderen daran, Bäume zu fällen, Steine herbeizurollen und nach Lehm zu graben. Einem Anderen kam erstmals die Idee, die Ziegel zu brennen, um sie robuster zu machen. So dauerte es keine Woche, bis die innerste Mauer errichtet war, dreihundertsechzig Meter im Durchmesser. Auch lieferte ihnen das alte Dorf genügend Material, das neue doppelt so prächtig zu erbauen. Doch anstelle eines Palastes für den Häuptling errichteten die Anderen einen Garten für das Alienum, denn als neue Herrschaftsform wählten sie die Alienokratie.
Sowie die Anderen herausfanden, dass das Alienum nicht weniger wurde, wenn man den lockeren Boden darunter wegtrug, mauerten sie ihm einen Brunnen. Es ziemte sich für jeden Anderen, ob arm oder reich, ob Mann oder Frau, regelmäßig am Brunnenrand zu verweilen, und so war der Garten Tag und Nacht eine Anstalt des öffentlichen Lebens. Wenn auch nicht alle einen Sinn im Alienum sahen, verehrten sie es jedoch für seinen enormen Sog, den sie mit Heiligkeit gleichsetzten. Man sprach mitunter vom Hochheiligen Geist. Manch einer erlag ihm sogar, sprang in den Brunnen und stürzte zu Tode. Den Leichnam eines solchen Erleuchteten zu bergen, zählte bald zu den angesehensten Berufen, weil dies ebenfalls zur Erleuchtung führen konnte.
Auch Anderen diente das Alienum als Berufung, da es nicht nur spirituellen Wert besaß; so wurde es der Alienologie zum alleinigen Gegenstand, der Königsdisziplin aller Wissenschaften. Doch selbst eine Vielzahl an praktischen und gedanklichen Experimenten vermochte nicht, den eigentlichen Zweck des Alienums zu offenbaren – insbesondere, es nutzbar zu machen, vor allem wirtschaftlich.
So fühlten sich die Besucher eines gewöhnlichen Alienologenkonvents meist an einen Basar erinnert, auf dem jeder durcheinanderhüpfte und seine Ware am lautstärksten feilbot: »Hochheiliger Schmuck, nur hier! Macht erhaben, glücklich und großzügig!«
»Diese Konstruktion garantiert den Nachweis des Hochheiligen Geistes! Kirchenstaatlich geprüft und frei von Quacksalbe!«
»Hochheiliger Badeschaum!«
»Raucht den Hochheiligen Geist durch die Nase! Sprecht mit euren Ahnen! Blickt in die Zukunft! Lernt euer Schicksal kennen!«
»Kauft den Hochheiligen Geist, denn er kann nicht in Gold aufgewogen werden!«
Unterdessen fanden die Leisen unter den Anderen heraus, dass das Alienum weder konzentriert noch verdünnt, weder verrührt noch umgewandelt, geschweige denn messbar gemacht werden konnte. Niemandem gelang es, Garn daraus zu spinnen, einen Reim darauf zu machen, eine Diskussion damit zu gewinnen. Weder vermochte es Sterbenskranke zu heilen, noch ihre Schmerzen zu lindern. Je mehr Theorien die Anderen aufstellten, desto stärker schien sich das Alienum ihrer kollektiven Vorstellungsgabe zu entziehen.
Bevor man eine Erklärung für das Alienum hatte, waren die Fremden unter den Anderen. Die Fremden fielen auf, da sie im Gegensatz zu den Anderen viele Körperteile paarweise besaßen: So standen sie auf zwei Beinen und benutzten diese, um sich laufend fortzubewegen. Außerdem hatten sie zwei Arme, mit denen sie zweihändige Waffen führten. Sogar ihre Augen trugen Sie doppelt, was ihnen ein größeres Sichtfeld und räumliche Orientierung ermöglichte. Den Neugierigen fiel überdies auf, dass die Frauen der Fremden zwei Säuglinge gleichzeitig aufziehen konnten. In anderen Worten waren die Fremden schneller, stärker, aufmerksamer und fruchtbarer als die Anderen, was nicht jeder mit Wohlwollen auffasste.
Zwar hatten die Anderen großen Respekt vor den Fremden, allerdings waren sie ihnen zahlenmäßig weit überlegen, so dass man sie im Dorf duldete. Selbst den Zugang zum zentralen Brunnen gewährte man ihnen, da das Alienum über alle Vorurteile erhaben war und nicht durch fremde Einflüsse verdorben werden konnte. Viel mehr erhoffen sich die Anderen, die Fremden durch das Alienum zu welchen von ihnen zu machen, vielleicht sogar von ihnen zu profitieren, denn man erzählte sich, dass sie sogar zwei Gehirnhälften besaßen. Schließlich interessierten sich die Fremden brennend für das Alienum.
Und die Anderen sollten nicht lange auf die Fremden warten, was deren Verständnis des Alienums anbelangte: »Seht ihr Einäugigen nicht, wie es euch versklavt? Man braucht keine zwei Nasenlöcher, um zu riechen, dass die Sache faul ist!«
»Einigkeit erfordert universelle Akzeptanz!«, schrien die Anderen empört. »Empfangt unseren Hochheiligen Geist oder seid auf ewig verbannt!«
»Einen schönen Abgott habt ihr erschaffen!«
»Einen wahren Gott habt ihr verleumdet!«
Die Fremden behaupteten im Nachhinein, dass es ihre zahlenmäßige Unterlegenheit gewesen war, die einen anschließenden Bürgerkrieg verhindert hatte. Die Anderen hingegen waren hinterher fest davon überzeugt, dass es der friedensstiftende Einfluss des Alienums gewesen sein musste. Jedenfalls unterbreiteten die Fremden den Anderen ein Angebot, auf das sich alle einigen konnten: »Überlasst uns die Erforschung des fremdartigen Vorkommens, und wir werden prüfen, wie göttlich es ist.«
Die Anderen glaubten so felsenfest an ihren Hochheiligen Geist, dass sie einwilligten und den Fremden gestatteten, dem Alienum einen neuen Brunnen zu bauen. Dieser sollte technologisch, finanziell und an Größe alles übertreffen, was die Anderen jemals hätten erbauen können, denn die Fremden brachten Wissen, Reichtum und Ambitionen. So gruben sie hunderte Meter in die Tiefe und setzten erstmals neuronale Messgeräte ein, das Alienum nachzuweisen.
Zunächst postulierten die Fremden, dass das Alienum im Aufbau einem multidimensionalen Quantenschaum ähnelte. Dann stellten sie fest, dass es unter der Erde ein weit verzweigtes Netz gebildet hatte, was entweder vor, während oder nach dem Bau des Brunnens geschehen sein konnte. Daraufhin begannen die Fremden, riesige Mengen des Alienums von Hand zu fördern, um es in oberirdischen Tanks einzulagern.
Es verstand sich von selbst, dass sie ein Schichtsystem einführten und die Anderen tüchtig mitarbeiten ließen. Bezahlt wurden diese in Alienum, wobei es sich auch als umstrittenes Zahlungsmittel herausstellte, da es weder zählbar noch knapp war. In anderen Worten beschränkte sich sein Wert auf den Glauben seines Besitzers, den bereits nicht definierbare Mengen zu beflügeln vermochten.
Schließlich mussten sich selbst die Fremden eingestehen, dass der Hauptaspekt des Alienums seine gewaltige Sogwirkung war, die sich physikalisch nicht erklären ließ. Weder gelang es ihnen, die göttliche Theorie zu widerlegen, noch konnten sie dem Alienum teuflische Tendenzen nachweisen. Während die Anderen nur eine einzige Begegnung mit dem Alienum benötigt hatten, brauchten die Fremden Tausend fehlgeschlagene Experimente, ihm komplett zu verfallen.
Die Förderung des Alienums nahm derart bodenlose Ausmaße an, dass die Fremden trotz ihrer bionischen Bergbauroboter und Unterstützung durch die Anderen den eigenen Bedarf an Alienum nicht decken konnten. Der Krieg, den sie dem Alienum erklärt hatten, verschlang Unmengen an Ressourcen und erforderte Kollateralschäden.
So kam es, dass die Fremden den Anderen unter den Minenarbeitern zunehmend die Alienumlöhne kürzten, um ihre Kriegsmaschinerie weiter zu optimieren. Selbstverständlich führte dies zu Unmut, zumal die Anderen immer wehmütiger der Zeit gedachten, als sie dem Alienum noch allein gehörten.
Also gründeten sie Gewerkschaften, um sich gegen das Unrecht zu wehren. Diese forderten von den Fremden: »Gebt uns, was uns früher zustand, das bedeutet alles! Gebt uns die Alienokratie zurück! Bevor die Ergründung des Hochheiligen Geistes unser beider Völker ruiniert!«
Die Fremden argumentierten: »Wir haben bereits Fortschritte gemacht, und die Aufklärung ist nur eine Frage der Zeit. Jetzt abzubrechen, wäre eine Verschwendung überirdischen Außmaßes.«
»Dann werden wir in Streik treten«, drohten die Anderen.
»Dann verzichtet gänzlich auf euren Hochheiligen Geist.«
An dieser Stelle bleibt ungeklärt, ob sich die Anderen weiter versklaven ließen, weil sie nicht mehr ohne das Alienum leben konnten, oder ob sie von den Fremden versklavt wurden, weil diese nicht mehr ohne es auskamen. Belegt ist jedoch, dass es zu einem schrecklichen Bürgerkrieg kam, bei dem beide Seiten viel Blut ließen und dennoch wussten, dass die Fremden seit jeher die Oberhand hatten.
Nach ihrem Sieg schlugen die Fremden gleich drei Fliegen mit einer Klappe, indem sie die Alienummine von den Anderen in ein Arbeitslager umbauen ließen. Während die Sieger das zerstörte Dorf als ihre Stadt wieder aufbauten, brach für die Besiegten ein bis dato dunkelstes Zeitalter an, da sie allesamt unter die Erde verbannt wurden. Nie waren sie dem Alienum so nah und gleichzeitig so fern gewesen.
Die Fremden wurden zu unbarmherzigen Aufsehern. Ihre bionischen Roboter machten sie zu Wachen, die den Gefangenen am Gesicht ablesen konnten, wenn diese Alienum für eigene Zwecke stahlen. Doch bereits geringere Vergehen wurden mit dem Laserstrahl bestraft, um die Anderen schmerzlich daran zu erinnern, dass sie keinen Körperteil doppelt hatten. Viele Andere gaben ihr Leben im Minenschacht. Die wenigsten starben eines natürlichen Todes.
Einer von ihnen war der Häuptling, der einst seiner Gemeinschaft aufgetragen hatte, ein neues Dorf aufzubauen, um dem Alienum einen prächtigen Brunnen zu widmen. Jahre der Unterdrückung und der körperlichen Tortur hatten ihn geschwächt, so dass er nun spürte, dass sein Ende gekommen war.
Die Anderen scharten sich um des Häuptlings Sterbebett und hörten seine letzten Worte an: »Wir fristen unser Dasein im Schatten eines Feindes, der uns nicht versteht. Am meisten bedaure ich, dass mir nicht vergönnt sein sollte, das Licht der Sonne noch einmal zu erblicken. Aber der Hochheilige Geist hat uns nicht vergessen. Er wird uns wieder vereinigen, uns Andere und die Fremden. Darum erhebt euch nicht gegen sie, sondern gedenkt meiner Worte in seinem Namen.«
Er starb noch in derselben Nacht. Man bereitete ihm einen Sarg aus Pech und Schiefer und füllte diesen mit Alienum, um dem Häuptling einen heiligen Schlaf zu ermöglichen. Kaum hatte man ihn zu Grabe getragen, vergaßen die ersten bereits seine letzte Bitte und rotteten sich zusammen, um hinter den Rücken der Fremden zu flüstern: »Ehe wir einer nach dem anderen zugrunde gehen, lasst uns als Märtyrer in die Geschichte eingehen . . .«
»Je länger wir warten, desto schwächer werden wir sein . . .«
»Leicht werden wir es ihnen nicht machen . . .«
»Es wird Zeit . . .«
Die Anderen organisierten sich heimlich, besprachen Strategien und horteten ihre Werkzeuge, um sie als Waffen einzusetzen. Auch der Bau eines geheimen Tunnels wurde in Angriff genommen, um im Ernstfall die Alten, die Kranken und die Schwachen in Sicherheit zu bringen und letzten Endes an die Oberfläche zu gelangen. Alldieweil ahnten die Fremden, dass eine Rebellion bevorstand, rochen die Bedrohung in der staubigen Minenluft, die auch Spuren von Alienum enthalten konnte.
Ehe es allerdings zu einem blutigen Aufstand kam, der gewiss zur Auslöschung der Anderen geführt hätte, geschah das langersehnte Wunder, die vom Häuptling prophezeite Rettung durch den Hochheiligen Geist. Dieses Wunder offenbarte sich in der Jungfrau Aliena.
Die meisten, die Aliena anblickten, sahen in ihr eine überaus schöne Frau, deren Sogwirkung der des Alienums gleichkam. Einigen fiel auf, dass sie über zwei Paar Arme und somit viermal so viele Hände wie die Anderen verfügte, mit je fünf Fingern und zwei Daumen daran. Die wenigsten wurden gewahr, dass Aliena Engelsflügel auf dem Rücken und ein drittes Auge auf der Stirn trug, mit dem sie sogar das unsichtbare Alienum sehen konnte. Nur eine wusste, wer sie wirklich war.
Nur eine wusste, wo sie herkam. Denn falls sie nicht aus dem Alienum entsprungen war, musste Aliena von einem anderen Stern stammen. Doch wenn sie sprach, hörten die Anderen zu, als wäre sie eine von ihnen. Selbst ein Blinder konnte die Feuerzungen über ihr erkennen, kaum dass sie den Mund öffnete: »Das Problem ist, dass euch die Fremden nicht für ebenbürtig erachten.«
»Wir sind nun mal anders«, klagten die Anderen. »Besser schlag uns die Lösung vor.«
Also sprach Aliena: »Ihr braucht nicht mehr zu tun, als euch in Paaren zusammenzufinden, je ein Mann und eine Frau.«
»Aber das tun wir längst, Aliena. Die Zweisamkeit zwischen Mann und Frau ist das einzige, das uns noch Trost spendet. Nur führt es leider meist zu untröstlichen Kindern.«
»Ich rede nicht vom Akt der Fortpflanzung, sondern von der Vereinigung durch das, was ihr den Hochheiligen Geist nennt. Ihr werdet merken, was ich meine, wenn ihr eure Kleider zusammennäht.«
Die Anderen befanden Alienas Gebot für verheißungsvoll, da ihr die Weisheit des Alienums anhaftete. Sie nähten ihre Sträflingsuniformen Seite an Seite zusammen, je ein Mann und eine Frau, um einander nahe zu sein.
Es dauerte nicht lange, da hörten die Zusammengenähten auf zu hüpfen und fingen stattdessen an, einen Fuß vor den Anderen zu setzen und wie die Fremden zu gehen, zu laufen und zu rennen. Ebenso lernten sie, ihre Hände zu koordinieren und komplexere Handgriffe durchzuführen, was ihnen neue Fertigkeiten ermöglichte, die bislang nur den Fremden vorbehalten waren.
Verwunderlich wurde es erst, als sie auch ihre Augen synchronisierten, um ihr Sichtfeld zu vergrößern und räumliche Tiefe besser einzuschätzen. Zwar gab es nicht viel zu sehen im dunklen Schacht, dennoch fühlten sich die Anderen aufmerksamer und klüger als sonst. Von Aliena wollten sie wissen: »Wie ist das möglich? Befinden sich unsere Hirnhälften denn nicht in zwei getrennten Schädeln?«
»Ihr wisst es längst«, erwiderte Aliena. »Schließlich habt ihr nie aufgehört, an seine vereinigende Macht zu glauben.«
»Unser Bewusstsein verschmilzt also paarweise?«
»Das ist erst der Anfang. Der nächste Schritt wird sein, euch mit den Fremden zu versöhnen.«
»Wir wollen es tun«, stimmten die Anderen zu, »unter der Bedingung, dass du unsere Fürsprecherin wirst.«
Die Jungfrau Aliena willigte ein, frei von Eigennützigkeit und Ehrgeiz, aber voller Güte und Weisheit. Sie ersann einen Plan, die Führungsriege der Fremden in die Mine zu locken, und begegnete ihnen allein und unbewaffnet.
Auch die Fremden hatten nie eine wie Aliena gesehen, doch sorgte ihre Andersartigkeit zunächst mehr für Argwohn als für Ehrfurcht. Allerdings wurden auch sie schwach, als die bildschöne Frau zu sprechen begann: »Seht ihr, wie sich die Anderen haben reformieren lassen, um euch ähnlicher zu sein?«
»Es grenzt an Magie«, gaben die Fremden zu. »Aber es muss eine Erklärung geben, so wie es für alle Dinge eine Erklärung gibt . . .«
Endlich sahen die Fremden ein, dass all die Bemühungen vergebens waren, das Alienum zu ergründen. Die Mine hatte Unmengen davon hervorgebracht, sie hatten alles verschifft oder vergeudet, und trotzdem waren sie keinen Deut weiter als die Anderen. Die jüngsten Entwicklungen zeugten sogar davon, dass ihnen die Anderen überlegen waren.
Zum ersten Mal blickten die Fremden das unterdrückte Volk an und erkannten sie als die Anderen. Auch ihre eigene Unbarmherzigkeit erkannten sie und weinten bittere Tränen über all das Unrecht, das sie ihren Schwestern und Brüdern angetan hatten. Die Fremden warfen ihre Waffen nieder und forderten die Anderen dazu auf, Vergeltung zu üben, sofern sie dies wünschten.
»Wir werden uns nicht an euch vergehen«, versprachen die Anderen. »Was geschehen ist, kann wiedergutgemacht werden. Allerdings erfordert dies unser beider Mühen.«
»Wir akzeptieren euch als welche von uns«, beschlossen die Fremden, »und wir wollen den Hochheiligen Geist empfangen. Wer weiß, vielleicht wird er uns in welche wie sie verwandeln? Sie ist übermächtig. Sie soll unserem neuen Volk einen Namen geben und uns fortan als Kaiserin Aliena die Erste regieren!«
Alle Blicke waren Aliena zugewandt, während sie wohl überlegte, wie das neue Volk heißen würde: »Seid die Einigen. Es ist nur naheliegend.«
So war es beschlossen, und die Einigen bejubelten ihre junge Regentin, auf dass sie sie in ein goldenes Zeitalter führte.
Als erste Amtshandlung veranlasste Kaiserin Aliena die Erste, das Minengefängnis zu räumen und durch eine Reihe von Sprengungen für immer unzugänglich zu machen. Dann ordnete sie an, in der entstehenden Erdsenke ein Monument für das Alienum zu errichten, da dieses dort noch immer vorkam. Doch die Einigen einigten sich nicht etwa auf einen Brunnen, sondern auf einen Turm für ihre Kaiserin. In all ihrer Sanftmut gebot Aliena: »So baut ihn aus Schrott und nicht höher als das höchste Haus in der Stadt.«
Die Einigen ließen die besten Architekten und Monteure versammeln und schweißten einen Stahlturm von neunundvierzig Stockwerken Höhe, den sie hauchdünn mit Platin aus alten Katalysatoren beschichteten, um ihn vor Korrosion zu schützen. Die unteren Stockwerke standen allen zu, die sich nichts Schöneres vorstellen konnte. So wurde die Welt ihr Hofstaat, und nie sollte sich die Kaiserin sorgen, im sprichwörtlichen Elfenbeinturm zu leben.
Wenn sich die Einigen uneinig waren, was insbesondere zu Anfang häufig geschah, traten sie vor Aliena, um Schlichtung zu erbitten. Tag um Tag gab die Kaiserin ihre grenzenlose Güte zum Besten, indem sie Gesetze entschärfte, umstrittenes Erbe aus eigener Tasche aufstockte und Mördern zu Reue verhalf, um sie anschließend freizusprechen.
Auch Forschung und Wissenschaft sollten unter Aliena nicht zu leiden haben. Zwar war das Feld der Alienologie unter der Resignation der einstigen Fremden im Sande verlaufen, dafür verprach die wundersame Verschmelzung der ehemaligen Anderen eine blühende Zukunft. Die Alienumförderung wurde dekommerzialisiert und letzten Endes heruntergefahren, als die Vereinigung von Wissenschaft und Glaube langsam zu Tage brachte, dass Unmengen an Alienum die Gleichungen und Gleichnisse genauso wenig erfüllten wie überhaupt kein Alienum.
Umgekehrt maßen die Einigen dem Studium ihrer aller Kaiserin zunehmend mehr Bedeutung bei, denn Alienas Vergangenheit und Herkunft warfen so viele Rätsel auf wie das Alienum. Sprach man sie an, wie es allen gestattet war, entgegnete sie jedoch: »Ich bin zum rechten Zeitpunkt aus der Not heraus entstanden.«
»Verratet uns doch wenigstens eine besondere Erinnerung aus Eurer Kindheit.«
»Meine Jugend ist jäh im Angesicht der Aufgabe verblasst, die ich auf mich genommen habe. Kein Zeitzeugnis werdet ihr finden, das mich darauf hätte vorbereiten können.«
Nebst des bereits Genannten gediehen auch die schönen Künste unter Aliena, die selbst Konzerte gab, um ihr lautes Volk für einen Moment zum Schweigen zu bringen. Denn wie sich herausstellte, spielte sie die Sitarre mit ihren zwanzig Fingern und acht Daumen ganz vorzüglich, und sang sie auch dazu, erfüllte sie jeden Einigen mit der Inspiriation, eigene Werke zu erschaffen. Zu Anlässen wie diesen sah man das dritte Auge auf Alienas Stirn besonders leuchten, und es war, als ob sie zur Stimme des Alienums wurde.
So sang sie, dass sie sich nicht an dem stinkenden Müllberg erfreute, der sich mit der Zeit unter ihrem Turm ansammelte. Sie sang, dass das Alienum nie wieder vergraben werden durfte, weil es sonst in Vergessenheit geriet.
»Und wenn schon«, schrieben die Einigen in ihre Liederbücher, »denn der Ultrahochheiligen gedenken wir! Dem Geist wird gehuldigt, denn er steckt noch in ihr!«
Wenn Aliena ihre Antworten auch friedlich vortrug, kamen Einige nicht umhin, zunehmend melancholische Töne herauszuhören.
Die Kaiserin leistete unvergleichliche Arbeit, wenn es um ihr Volk ging, doch war sie trotz allem Anschein nicht perfekt. Genauer war sie Perfektionistin durch und durch und obendrein vom Makel der Selbstvernachlässigung behaftet, die sich zum Beispiel in Appetitverlust und chronischer Schlaflosigkeit äußerte. Um ihre unzähligen Aufgaben noch besser zu erfüllen, gab sie sich Stück für Stück selbst auf. In ihrer Weisheit war sich Aliena dessen bewusst, und dennoch zog sie es so vor.
Schließlich wurde auch den Einigen klar, dass es Aliena nicht gut ging. Mit jedem Tag sank sie auf ihrem Thron einen Millimeter tiefer in sich zusammen, zeigte immer häufiger Anflüge von Trübsal und Gleichgültigkeit und mitunter sogar Zorn.
»Wir genügen ihr nicht mehr!«, ängstigten sich die Einigen. »Unser degeneriertes Äußeres schreckt sie ab, und wir langweilen sie zu Tode!«
Also begann man, der Alienologie wieder mehr Achtung zu schenken, um die Einigen möglichst bald zu höheren Wesen zu fusionieren. Vier Arme sollten sie haben und mindestens drei Augen. Auch Kreuzungen mit Großvögeln wurden erprobt, um das Wachstum von Engelsflügeln zu begünstigen.
Einige stellten die Vermutung auf, dass Aliena einsam war, weil sie die einzige ihrer Gattung war. Man brauchte also bloß auf ein männliches Wesen derselben zu stoßen, das kaiserlichen Ansprüchen genügte. Die Einigen sandten Botschafter in die entlegensten Teile der Welt und hofften, dass sie nicht in der falschen Welt suchten.
Diese Expeditionen kehrten mit allerlei außergewöhnlichen Wesen zurück, doch unter den ganzen Paarflüglern, Dreibeinigen, Vierherzigen, Fünfmündern, Neunschwänzigen und Tausendzehern fand sich nicht ein einziger Ebenbürtiger. Mit brachten sie Geschenke aus kostbaren Materialien, große Augen und urkomische Geschichten. In endlosen Reihen wurden die Außergewöhnlichen der Kaiserin vorgeführt, die jeden von ihnen mit Respekt behandelte und derweil weiter in ihren eigenen Schatten trat.
»O Kaiserin!«, flehten die Einigen. »Gefällt Euch denn gar keiner von den Außergewöhnlichen?«
»Selbst wenn ich mir einen zum Gemahl wünschte«, seufzte sie, »könnte ich keine Zeit für ihn erübrigen. Liebe erfordert Hingabe, doch bin ich längst vergeben.«
»Ihr habt nur noch nicht den Richtigen gefunden, also haltet durch!«
In ihrem Eifer waren die Einigen blind, was sie noch bitter bereuen sollten.
Der letzte Außergewöhnliche, der Aliena den Hof machte, war Alius. Er war der einzige, dessen Gestalt nicht im Angesicht der Kaiserin verblasste, denn er war vierbeinig, besaß nicht vier, sondern sechs Arme und trug ein Geweih auf dem Kopf. Überdies war er von pechschwarzer Farbe und sah die Welt durch acht Augen. So wie Aliena das Licht verkörperte, war er die Inkarnation der Finsternis.
Dies erkannte auch Aliena, und als sie anstelle eines Gastgeschenks einen Dolch aus Obsidian überreicht bekam, sprach sie zu Alius: »Du bist mir willkommen, aber den Dolch behalte. Oder bist du ein Bote des Krieges?«
»Ich komme in Frieden«, versprach Alius, »und mein Geschenk war ein Test, denn ich musste mit eigenen Augen sehen, dass Ihr seid, wie man sich erzählt.«
Aliena, die nicht oft auf die Probe gestellt wurde, erwiderte zum ersten Mal in der Geschichte der Einigen: »Ich bin die Kaiserin.«
Zwischen den Silben umfasste dies, dass an ihrem Hof für gewöhnlich nur sie auf die Probe stellte. Dass ihr an ihrem guten Ruf gelegen war. Dass sie den Einigen nur einen Fingerzeig zu geben brauchte, um Alius gewaltsam zu entfernen, wobei ihm auch drei Paar Arme nicht nützen würden.
Gleichzeitig enthielt Alienas Ankündigung ein gesundes Maß an Neugier, wer dieser Außergewöhnliche war, der die Kaiserin herausforderte. Hierauf fokussierte sich Alius, als er log: »Ich hoffe, Ihr nehmt es mir nicht übel. Aber ich habe kein Interesse daran, Euch zu heiraten. Stattdessen bin ich hier, weil ich Eure Hilfe in Anspruch nehmen will.«
»Wie kann ich helfen?«, fragte Aliena und saß aufrechter auf ihrem Thron.
»Meine persönlichen Interessen außer Acht gelassen«, fuhr Alius fort, »muss ich trotzdem um Eure Hände anhalten.«
Anstatt ihre übliche Antwort zu geben, dass sie keine Zeit für Heirat habe, wiederholte Aliena: »Aber wie kann ich helfen?«
Alius erklärte: »Ich komme von einem fernen Stern, auf dem ich als Prinz geboren wurde. Leider herrscht dort seit vielen Jahren Krieg, und ein grausamer Ursupator besetzt meinen Thron, um meine Untertanen mit Feuer und Eisen zu quälen. Mit letzter Hoffnung klammern sie sich an eine Prophezeiung. Ich würd sie Euch gerne mitteilen, Aliena. Aber ich bin nicht sicher, ob Ihr sie ernstnehmen werdet.«
Den Einigen klang es allzu bekannt, denn obgleich sie nicht mehr die Anderen und die Fremden waren, konnten sie es auch nicht vergessen. Doch Alienas Gespür für Gerechtigkeit hatte auf sie abgefärbt, so dass sie riefen: »Sprecht, Außergewöhnlicher Alius! Wie lautet die Prophezeiung?«
»Sie besagt«, flüsterte Alius nur der Kaiserin zu, »dass das goldene Zeitalter erst anbrechen kann, wenn ein Vehikel aus dem Metall ferner Sterne eintrifft. An Bord befindet sich eine Jungfrau, die ein Geheimnis birgt.«
»Verrate es mir«, bat Aliena und nahm eine Hand von Alius.
»Die Jungfrau sieht die Welten durch ein unsichtbares Auge.«
»Was sieht sie?«, fragte Aliena und ergriff eine zweite Hand.
»Alles und nichts, das heißt eines, das Gleichgewicht sämtlicher Ordnungen. Sie sieht den rechten Weg vor sich, doch leidet sie darunter, weil ihre Kräfte begrenzt sind und ihre Untertanen oft vom Weg abkommen.«
Aliena nahm eine dritte Hand und ergänzte: »Gleichzeitig muss sie Ausschau halten nach all den falschen Wegen, sie in Gedanken allein gehen, so dass sie immer müde ist.«
Alius versicherte: »Bevor die Jungfrau eintrifft, schläft sie lange und tief.«
Schließlich gab die Kaiserin auch ihre vierte Hand und fragte: »Nur wer könnte die Prophezeiung erfüllen, wenn die Jungfrau längst keine mehr ist?«
»Ich traue meinen Augen«, erwiderte Alius. »immerhin habe ich acht davon. Eher bereitet mir Sorgen, dass die Jungfrau zu viele Arme haben könnte.«
Aliena errötete und ließ den Außergewöhnlichen los.
»Schön und gut«, fasste sie zusammen, »aber ein ferner Stern klingt weit, weit weg. Immerhin hat die Jungfrau bereits ein Volk zu führen. Auch rechtfertigt dein Anliegen nicht, um ihre Hände anzuhalten.«
»Dem Prinzen würde die Heirat helfen, seinen rechtmäßigen Thron zurückzufordern. Zwar wird er in der Prophezeiung nicht unmittelbar erwähnt, allerdings hat er etwas, das der Jungfrau fehlt, nämlich den Schlüssel zu ihrem Herzen.«
Die Kaiserin beschloss, dass der Außergewöhnliche sie amüsiert hatte. Dennoch erzählte er Märchen, bloß spannende Bettgeschichten, sie zu beeindrucken. Mit dem Ziel, ihr provokant den Hof zu machen. Alius war nur noch eine Andeutung davon entfernt, sich verabschieden zu müssen.
»Genug von der Jungrau«, beschloss Aliena, »und kein Wort mehr über mein Herz.«
Bevor er hinauseskortiert werden konnte, sprach Alius: »Ich kenne den Nutzen des wundersamen Vorkommens, das unter diesem Turm lagert, das Einfälle gibt, euch vereinigt und immer wieder den rechten Weg weist! Es ist der Treibstoff, der das Vehikel aus meiner Prophezeiung befeuert. Er ist so mächtig, dass er den kompletten Bauplan enthält und seine Umgebung transformiert, bis das Vehikel aus seiner Idee herausgewachsen ist.«
Da wurden den Einigen die Ohren und die Gesichter lang, denn Alius‘ Worte ergaben mehr Sinn, als sie sich eingestehen wollten. Das Alienum war übermächtig, es hatte sie lange in der Erde wühlen und sogar das Turmvehikel für die Kaiserin bauen lassen. Ganz zu schweigen von den übrigen Dingen, die Alius über das Alienum gesagt hatte, die noch kein Alienologe so offen formuliert hatte. Sie klebten an seinen Lippen und wollten alle Einzelheiten des wundervollen Treibstoffs erfahren.
Alius hingegen hatte nur Interesse an Aliena, die fürs Erste sprachlos war. Also verabschiedete er sich unerwartet und mit den Worten: »Es ist der Treibstoff, und Ihr seid der Katalysator. Unser Ehebund könnte der Zündfunke sein. Überlegt es Euch, Aliena.«
Der Außergewöhnliche bezog Quartier im Turm der Kaiserin, um ihr Zeit zu geben, gründlich über seine Worte nachzudenken. Die Einigen begegneten ihm mit Ehrfurcht und sorgten dafür, dass ihm an nichts mangelte. Ständig sah er ihnen an, dass sie Fragen hatten, die sie nicht auszusprechen wagten. Sie warteten erst ab, ob ihm die Kaiserin Vertrauen schenken wollte. Dabei wusste Alius längst, wie sie sich entscheiden würde, denn auch er sah durch die Kraft des Alienums den rechten Weg vor sich.
Nach drei schlaflosen Nächten ließ Aliena den Prinzen endlich zu sich rufen. Sie trafen sich, begleitet von einer kaiserlichen Eskorte, am Fuße des Turms, um das Alienum zu besuchen. Umschlossen von den fünf Säulen, auf denen der Turm ruhte, war die einst heilige Stätte einem gepflasterten Platz gewichen, der kaum noch Besucher und allenfalls Müllberge anzog. Doch störte sich Aliena diesmal nicht am Unrat, denn sie wollte mit Alius über größere Dinge sprechen.
»Wieso hier und warum wir?«, wollte Aliena wissen.
»Weil es einen Plan für uns ersonnen hat«, erwiderte Alius und streckte seine sechs Arme nach dem unberührbaren Alienum aus.
Da Aliena dies längst wusste, kam sie zur Sache: »In zehn Tagen werden die Sterne günstig stehen, dann soll unsere Hochzeit stattfinden. Bis dahin werden wir unsere Arbeiten am Vehikel vollenden, denn ich will bald in deine Heimat aufbrechen.«
Alius ging vor seiner Verlobten auf die vier Knie und küsste jede ihrer Hände.
»Was ist mit uns?«, forderte die Eskorte. »Was wird aus den Einigen?«
»Mein Volk soll uns begleiten«, entschied Aliena. »Vorausgesetzt, es ist willig.«
»Wir reisen mit Euch«, versprachen die Einigen, »denn wir leben für Euch. Wir würden sogar unser Leben für das Eure geben, sollte man Euch mit Feindseligkeit empfangen.«
»Es wird unvermeidbar sein«, versprach Alius.
»So es denn sein muss«, sprach Aliena.
Die Einigen begannen umgehend, den Turm zu einem Vehikel umzubauen, das die Welt noch nicht gesehen hatte. Neben Rost musste es nun zusätzlich gegen den Weltraum abgedichtet werden, dem man nachsagte, er gleiche in vielen Eigenschaften dem Alienum. Mit dem gewaltigen Unterschied, dass er tödlich war. So verglaste man das Vehikel mit einer Haut aus hemikristallinem Beryll, was die Einigen in Anbetracht der Zeit vor eine technologische Herausforderung stellte. Trotzdem sah man sie schon am achten Tage damit beschäftigt, die letzten Risse zu versiegeln.
Derweil trug man tonnenweise Proviant und Besitztümer in den Turm, denn niemand konnte abschätzen, wie lange sie unterwegs sein würden. Der Kaiserin war bewusst, dass das Vehikel nicht genügend Platz für alle bot. Daher wies sie die zurückbleibenden Einigen an, während ihrer Abwesenheit nach der Stimme des Alienums zu horchen. Sobald Aliena andernorts die Ordnung wiederhergestellt hatte, wollte sie zurückkehren, denn sie kannte ihr Volk und seine Verfehlungen.
Die Gestaltung des Antriebs überließen die Einigen weitestgehend dem Prinzen, der ihnen versicherte, dass sie sich um nichts zu kümmern brauchten. Das Blutsbündnis zwischen Aliena, dem Alienum und seiner selbst sollte am Tag der Hochzeit eine magische Kettenreaktion in Gang setzen, die genügend Energie freisetzen würde, das Vehikel und all seine Passagiere zu fernen Sternen zu bringen.
Fragten die Einigen ihn nach seiner Heimat, erzählte Alius bereitwillig davon: »Meine Hautfarbe kommt nicht von ungefähr, denn dort ist es dunkel, nass und kalt. Das Chaos, das dort waltet, möchte keine Sonne in Augenschein nehmen.«
»Aber sagt, woran wärmt Ihr Euch?«
»Eine Handvoll Vulkankrater und Erdspalten schüren die Glut unseres erbarmungslosen Daseins. Dort besitze ich Einfluss, doch bergen sie natürliche Gefahren. Hinzu kommen die umherziehenden Barbaren, deren einziges Gesetz das des Stärkeren ist. Ihr tätet gut daran, euch nicht allein in die Wildnis hinauszubegeben.«
»Wir fürchten uns vor nichts«, erwiderten die Einigen, »denn die Kaiserin weiß, was sie tut. Sie wird Eure Sonne sein.«
Wie im Flug vergingen die neun Tage der kaiserlichen Verlobung, bis schließlich der zehnte anbrach. Dieser sollte als größter Feiertag in die Geschichte der Einigen eingehen, weshalb man ihn gebührend zelebrierte. Das gesamte Volk war am Vehikel erschienen, um der Vermählung von Kaiserin Aliena und Prinz Alius beizuwohnen und Zeitzeuge dieses Spektakels zu werden; manchereins allein des Brautkleids aus Baumseide wegen, das mit frischen Rosengewächsen bestickt war.
Die Zeremonie dauerte vom Morgengrauen bis kurz vor Sonnenuntergang, zu welchem Zeitpunkt der Eheschwur gesprochen werden sollte. Hierfür hatten die Einigen im Alienum einen Altar errichtet, aus rotem Korund gehauen und mit Weißgold graviert. Die Inschriften hielten die Tüchtigkeit ihrer Kaiserin sowie die Prophezeiung fest, die der Prinz mit in die Ehe brachte. Einzig der Schwur fehlte und sollte nachgetragen werden, sobald Braut und Bräutigam ihr beidseitiges Einvernehmen geäußert hatten.
So forderte der Hohepriester sie auf: »Prinz Alius vom fernen Stern, möchtet Ihr Kaiserin Aliena die Erste zu Eurer Frau nehmen und in hiesigen wie jenseitigen Welten Fürsorge für sie tragen?«
»Ja, ich will!«, sprach Alius voller Stolz und Zuversicht.
»Kaiserin Aliena die Erste«, fuhr der Hohepriester fort, »möchtet Ihr den Prinzen zu Eurem Manne nehmen und ihm in goldenen wie in dunklen Zeiten stets zur Seite stehen?«
Aliena hielt inne und achtete auf den Weg, den das Alienum vor ihr zu beleuchten hatte, wie sie es gewohnt war. Doch schwieg es. Die Kaiserin wusste dies als Zeichen zu deuten, und so rekapitulierte sie ihre Überlegungen, die für oder gegen die Heirat mit dem Prinzen sprachen. Alle Gedanken wurden von der Erkenntnis überschattet, dass er sie belogen hatte.
»Nein, ich will nicht!«, gellte Aliena und ließ Alius und die Einigen gewaltig zusammenfahren. »Du bist kein Prinz von einem fernen Stern, sondern ein Schwindler! Ein hochbegabter Scharlatan, der mir eine Mär in den Kopf gesetzt hat, ebenso ins Herz! Ein Vehikel zur Hölle hast du uns bauen lassen!«
»Was fällt Euch ein?«, empörte sich Alius. »Was verleitet Euch zu einem derart weiblichen Stimmungsumschwung? Wollt Ihr Euch vorm Volk blamieren?«
»Ich bin die Kaiserin, die Entscheidung obliegt mir. Ich erkläre die Verlobung für nichtig.«
Erbost sprach Alius: »Ihr habt mich durchschaut, die Prophezeiung ist unwahr. Aber mein Motiv ist ehrlich, denn ich bin ein Prinz, und mein Volk braucht den wundersamen Treibstoff, sonst ist es verloren. Darum habe ich es im Guten mit Euch versucht, Aliena. Wenn Ihr mir den Treibstoff nicht überlasst, werde ich Euch alle töten.«
Schwer wog die Entscheidung auf Alienas Schultern, denn das Alienum schwieg weiterhin. Kurzerhand entschied die Kaiserin: »Der Treibstoff gehört den Einigen, zu denen du nicht mehr gehören sollst. Ich verbanne dich hiermit auf Lebenszeit.«
Da packte Alius die Kaiserin fest an den Flügeln und zog mit allen Händen daran. Ein Orkanbrausen ging durch das Volk, und es strömte zum Altar, um Aliena Beistand zu leisten. Es musste den beschämenden Anblick seiner Kaiserin über sich ergehen lassen, wie Alius ihr die Flügel ausriss.
Doch Aliena erhob sich unter Schmerzen und gebot dem aufgebrachten Volk: »Haltet ein, lasst ihn selbst zur Vernunft kommen.«
Ihre herrliche Geste von Güte erzürnte den Prinzen noch mehr, und er packte Aliena fest an den Armen, so dass er ihr zwei ausgerissen hatte, bevor ihr die Einigen zur Hilfe eilen konnten.
Schockiert mussten diese mit ansehen, wie ihre verstümmelte Kaiserin auf dem Altar zusammenbrach und ihnen noch immer befahl: »Lasst ihn in Frieden.«
Noch erboster als zuvor, schrie Alius: »Ich werde euch alle töten, und Euch zuerst!«
Er schlug Alienas Kopf gegen den roten Korund, zückte den Dolch, den sie verschmäht hatte, und stach ihr durch das dritte Auge tief in die Stirn, um sie an den Altar zu nageln.
Nun ließ auch das Volk den Wütenden nicht mehr von selbst zur Vernunft kommen, und es griff ihn von allen Seiten an. Alius war den Einigen körperlich weit überlegen und ein erbarmungsloser Gegner, der viele erschlug, mit dem Geweih aufschlitzte oder in der Luft zerriss. Kugeln prallten an ihm ab, was weitere Einige das Leben kostete, und die Menge konnte ihn nicht erdrücken, weil er so unsagbar stark war.
Während der Außergewöhnliche die Einigen einen nach dem anderen abschlachtete, verstarb Aliena an ihren gravierenden Verletzungen. Kaum lief ihr Blut am Altar herab und versickerte zwischen den Fugen, ging eine Erschütterung durch den Boden und warf die Kämpfenden nieder. Es war das Alienum, das Anteil nahm an Alienas Tod.
Dies hatte Alius erhofft, und er schlug sich den Weg zum Altar frei, den er bestieg, um aus allen Lungen zu brüllen: »Ich bin Alius!! Euer Kaiser! Fallt mir zu Füßen, oder ich lasse Feuer regnen und die Erde beben!«
Daraufhin riss er den Leichnam der Kaiserin der Länge nach mit dem Dolch entzwei, so dass ihr Blut auf einen Schlag entwich. Sowie es versickert war, ging ein Beben durch die Erde, so gewaltig, dass es Beine brach und Gemäuer zum Einsturz brachte. Auch der Turm der Kaiserin konnte den gewaltigen Kräften nicht länger standhalten und stürzte ein, womit er Tausende Einige unter sich begrub. Wer den Tod nicht in seinen Trümmern fand, wurde vom anschließenden Erdrutsch erfasst, der die Stadt dem Erdboden gleichmachte.
Zehn Tage brauchte der Staub, um sich zu legen. Nur noch hier und dort ragten vereinzelte Spitzen aus dem Sand, doch der Rest der Stadt ward nie wieder gesehen. Auch von den Einigen fehlte jegliche Spur. Übrig blieb bloß das Alienum.
Eine Zeitlang hatte das Alienum noch Gesellschaft, denn der Außergewöhnliche Alius war am Leben. Tief unter der Erde lag er gefangen, umgeben von festem Gestein und unfähig, sich zu rühren. Während die Einigen einen raschen Tod gefunden hatten, musste Alius langsam ersticken.
Er wusste, dass nur das Alienum ihm helfen konnte, also bat er: »So nimm ein wenig von meinem Blut, um noch einmal solch einen Erdrutsch zu verursachen, damit ich mich an die Oberfläche graben kann. Ich werde dein Werk vollenden und dich heimbringen. Wenn ich umkäme, müsstest du von vorne beginnen.«
Das Alienum schwieg.
»Was ist es, das du willst?«, fuhr Alius fort. »Regentschaft? Ich gebe mich geschlagen! Oder ist es Reue, die du von mir forderst? Ich verstehe dich gut genug, du willst mich belehren. Aber ich war so zornig! Nun werde ich mein Volk nicht retten, für das ich ein zweites geopfert habe. Schlimmer noch, Aliena habe ich geopfert. Die Tugendhaftigkeit habe ich ermordet. Es ist zu schwer für mich. Ich bin es leid, lass mich nun gehen.«
Das Alienum schwieg weiterhin, und so verstummte auch Alius. Er starb mit dem erlösenden Gedanken, dass er seinen letzten Atemzug nicht vergeudet hatte, indem er dem Alienum seine Schuld gestanden hatte.
Alle, die da gelebt hatten, waren nun tot. Das Alienum hingegen war noch immer. Es wies denjenigen den rechten Weg, die von ihm abgekommen waren.
Darum entschied Aliena sich für einen anderen Weg und antwortete stattdessen: »Ja, ich will.«
Sie nahm den Prinzen in die Arme und küsste ihn lange, und das Volk brach in Jubel aus.
»Kaiser Alius der Erste und Kaiserin Aliena die Erste«, bekundete der Hohepriester, »ich erkläre Euch hiermit zu Mann und Frau. Möget Ihr einander ewig Frieden bringen.«
»Lasst uns keine Zeit verlieren«, beschloss Aliena und ließ sich von ihrem Bräutigam den Dolch reichen.
Während sie den Blutschwur vollzogen, fiel ein Tropfen auf den hochheiligen Boden, woraufhin die Erde zu summen begann. Die Einigen gerieten in Aufregung und begannen, von allen Seiten in das Vehikel zu strömen, um unter keinen Umständen zurückgelassen zu werden. Was sie für die Reise benötigten, befand sich an Bord, sobald Aliena hinzugestiegen war.
Kaum hatte das Brautpaar die neunundvierzigste Etage erreicht, begann das Vehikel zu vibrieren, bis man das eigene Wort nicht mehr zu verstehen vermochte. Die Einigen eilten an ihre Beryllfenster und erschraken, als sie ihre Heimat unter sich verschwinden sahen. Ob sie das Alienum ebenfalls zurückließen, wusste niemand zu beantworten.
Das Himmelblau wurde zu tiefem Schwarz, gespickt mit Sternen, von denen einer ihr Ziel war. Niemand konnte sagen, wie lange sie unterwegs sein würden, nicht einmal Kaiser Alius. Dieser hatte alle sechs Hände voll zu tun, den Einigen ein guter Herrscher zu sein. Denn er verbrachte seine Tage zwischen Audienzen, zu denen das Volk sein täglich Leid klagen konnte. In der Regel waren dies Kleinigkeiten, die aus dem allgegenwärtigen Platzproblem und schierer Langeweile resultierten. Hin und wieder kam es jedoch zu schweren Übergriffen, so dass Alius die Beherrschung verlor und Gewalt androhte. Stets besann er sich jedoch rechtzeitig, beendete die Audienz und suchte Trost bei Kaiserin Aliena.
Diese hingegen ward beim Volk deutlich seltener gesehen, weil ihr guter Schlaf prophezeit worden war. Wenn sie sich doch einmal unter die Einigen wagte, erschraken diese oft, wie ähnlich die Kaiserin ihnen inzwischen schien. Zwar wirkte sie noch Gutes, wo sie ging und stand, allerdings sah man ihr das Eheleben deutlich an.
So verwundete es die Einigen nicht, als Aliena nach drei Jahren Winterschlaf ihre Gemächer verließ und fortan nie mehr ohne einen Korb gesehen war, in dem ein kleines Wesen lag, das drei Beine, fünf Arme und stahlgraue Haut hatte. Niemand wusste, wie viele Augen es besaß, da es meistens schlief. Auch seine Finger waren noch zu klein, sie alle zu zählen.
Das Wesen wuchs als Prinz Alienus unter seinesgleichen auf und sollte Allen ein Herrscher werden, der seine Mutter mit Stolz erfüllte. Die Geschichte des Volks Aller aber soll ein anderer erzählen, denn lang war die Reise der Einigen, und länger die Geschichte des Alienums, das den Einigen den rechten Weg weisen sollte. Und wenn sie nicht gelandet sind, so reisen sie noch heute.
© 2021 Anton Hoyer
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