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Alles, alles neukaufen

Alles, alles neukaufen - German short story by Anton Hoyer

»Potzblitz!«, fluchte Herr Pinke, als ihm die Tasse zum dritten Mal vom Henkel gebrochen und in den Schoß gefallen war. Der Kaffee war bereits kalt gewesen, aber es brannte ihn die Schmach, den Tag erneut besudelt verbringen zu müssen und sich zum Gespött seiner Angestellten zu machen. Er holte einen Klebestift aus seinem Schreibtisch und klebte den Henkel zum dritten Mal an die Tasse, auch wenn sein Vertrauen in das bärenverzierte Gefäß nun nachhaltig geschädigt war.

»Was grinsen Sie denn so, Fräulein Asche?«

»Vielleicht sollten Sie sich mal eine neue Tasse kaufen«, erwiderte seine Sekretärin.

Herr Pinke seufzte und erklärte, was er allen erklärte: »Fräulein Asche. Wissen Sie, warum Pinke & Söhne die reichste Bank der Welt ist? Weil ich eben nicht einfach mal eine neue Tasse kaufe, nur weil der Henkel abgebrochen ist, denn man kann noch daraus trinken. Würden Sie eine Aktie etwa sofort abstoßen, nur weil der Kurs um ein paar Prozent fällt? Nein? Gut, denn Finanzen können genauso repariert werden wie Tassen.«

»Sie müssen es wissen, Chef.«

Sie hackte wieder auf ihren Laptop ein und Herr Pinke wartete, dass seine Hose und der geklebte Henkel trockneten. Wusste er es denn wirklich? Warum wollte er sich nicht eingestehen, dass er im Reparieren von Tassen nicht so tüchtig war wie im Reparieren von Finanzen? Er liebte diese Tasse, sie hatte ihn Jahre lang begleitet, aber vielleicht hatte seine Sekretärin recht und es war an der Zeit, sich von ihr zu trennen, weil sie irreparabel war.

»Frau Asche, ich mache einen Spaziergang. Schicken Sie mir Ricco und den Wagen vorbei, wenn ich Sie anrufe.«

Herr Pinke ging die Straße hinunter und betrat das Haushaltswarengeschäft. Es dauerte nicht lange, da hatte er eine Tasse mit Enten gefunden, die ihn hinreichend an die Bärentasse erinnerte. Der Henkel saß fest wie geschweißt und einzementiert. Er zahlte und ließ sich die neue Tasse einpacken. Draußen vor dem Geschäft stolperte er auf den Stufen und dachte im Fallen nur an seinen Neukauf, dass er nicht zerbrechen möge, doch er hatte Glück, denn weder er noch die Ententasse erlitten Schaden. Verärgert stellte er fest, dass seine linke Schuhsohle schuld gewesen war, die sich vom Schuh gelöst hatte und nun beim Laufen hoch und runter schlappte. Passanten drehten sich nach dem Geräusch um und tuschelten hinter hervorgehaltener Hand über den kaffeebekleckerten Mann, der sich keine vernünftigen Schuhe leisten konnte. Ihre Reaktion nervte Herrn Pinke derartig, dass er zum Schuster watschelte, um die Sohle umgehend reparieren zu lassen.

»Bis übermorgen sind sie fertig. Soll ich Ihnen ein Ersatzpaar mitgeben, damit Sie in der Zwischenzeit nicht barfuß gehen müssen, mein Herr?«

Herr Pinke antwortete nicht, denn er hatte gar nicht zugehört, weil er die Augen nicht von dem ganzen feinen Leder nehmen konnte, das in den Regalen aufgereiht war. Schwarze Schuhe, braune Schuhe, spitze, breite, dickbesohlte, mit Schnürsenkeln, Schnallen oder Klettverschluss, mit und ohne Sporen. Was soll’s, dachte er, Pinke & Söhne ist die reichste Bank der Welt, es würde ihn schon nicht in den Bankrott treiben, wenn er seinen Füßen etwas gönnte.

»Vergessen Sie die Reparatur, ich kaufe ein neues Paar.«

Er nahm zwei Schuhe in die Hand, die den alten sehr glichen, doch etwas war anders. Die alten waren ebenfalls gute, hochwertige Schuhe gewesen, er hatte sie lange Jahre getragen, aber die neuen waren eben neu. Das Paar passte wie angegossen. Herr Pinke zahlte und ließ die kaputten im Laden zurück.

Direkt neben dem Schuster war eine Wäscherei und neben der Wäscherei befand sich ein Geschäft für Herrenbekleidung. Wie unpraktisch Waschen doch eigentlich war, dachte er, denn er konnte wohl kaum in Unterwäsche durch die Straßen laufen, der Chef der reichsten Bank der Welt, während Hemd und Hose gewaschen wurden. Trocknen mussten sie anschließend ja auch noch! Kurzerhand betrat er das Bekleidungsgeschäft, kaufte sich Hemd und Hose und ließ die kaffeebefleckten Textilien im Laden zurück. Als er Fräulein Asche anrufen wollte, damit sie ihm Ricco und seinen Wagen vorbeischickte, musste er feststellen, dass sein Handy ausgegangen war. Ob es nun im Kaffee ertrunken, mangels Energie verreckt oder einfach nur so ausgegangen war, Herrn Pinke war es egal. Er ging in ein Elektrofachgeschäft und kaufte sich ein neues Handy. Das alte ließ er zurück, und als man ihm sogar eine kleine Prämie dafür bot, freute er sich über seinen Geschäftssinn, der seine Bank zur reichsten Bank der Welt gemacht hatte.

Als Ricco endlich mit dem Wagen eintraf, setzte sich Herr Pinke nach hinten und öffnete den eingebauten Kühlschrank, um eine eiskalte Limonade aus seiner neuen Tasse zu trinken.

»Scheff, der Kühla jeht nich.«

»Was? Wieso denn immer noch nicht?«

»Hab’s noch nich jeschafft ihn wieda flott zu machen. Tschuljung, Scheff.«

Herr Pinke ärgerte sich und ließ sich von Ricco zum nächstbesten Luxuswagenhändler fahren, wo er eine fabrikneue Limousine mit funktionierendem Kühlschrank erwarb. Weil Ricco das Kühlfach nicht repariert hatte und weil er Ricco eigentlich noch nie gemocht hatte, kaufte er kurzerhand auch einen neuen Chauffeur. Er freute sich über die saftige Prämie, die man ihm für den kaputten Wagen gab, und ließ sich von Pavel im neuen Fahrzeug nach Hause fahren.

»Schatz«, rief Frau Pinke aus dem Bad, »denkst du bitte dran, den Klempner anzurufen? Das Wasser in der Wanne fließt nicht ab.«

»Den Klempner? Was soll der denn da machen?«, rief Herr Pinke und schlug die Zeitung auf, um ein neues Haus zu kaufen. Das neue Haus hatte Feuchtigkeit im Keller, also verkaufte er es wieder, schlug die Zeitung erneut auf und kaufte ein anderes. Das dritte Haus hatte ein Wespennest unterm Dach, beim vierten wuchs der Rasen zu hoch, beim fünften löste sich das Klingelschild. Irgendwann ging er dazu über, keine gebrauchten Häuser mehr zu kaufen, und baute nur noch neue. Gab es Baumängel, verkaufte er die Häuser an seine Nachbarn, waren die Nachbarn unangenehm, kaufte er die ganze Straße oder Nachbarschaft. Sein tüchtiger Geschäftssinn stellte beglückt fest: Je größer die Summen wurden, desto näher kam die Verkaufsprämie an den Kaufpreis heran, bis sie ihn zum Schluss sogar übertrumpfte. Pinke & Söhne waren nun so reich, dass keine Finanzkrise der Welt sie jemals in den Bankrott treiben konnte, weil er sogar die Finanzkrise neukaufen würde, bevor sie ihm gefährlich werden konnte.

Ein paar Monate lang zogen Herr und Frau Pinke von einer Villa in die nächste. Er genoss diesen neuen Lebensstil, aber Frau Pinke machte er schwer zu schaffen.

»Herrje, das kann so nicht weitergehen! Ich habe Ausschlag auf dem Rücken, weil ich immer neue Kleider trage, die ich nicht waschen darf. Jedes Mal, wenn ich mit dem Einspeichern aller Telefonnummern fertig bin, ist der Akku leer und du kaufst mir ein neues Handy, damit der Spaß wieder von vorne losgeht. Nicht einmal deinen Wecker stellst du abends noch, du kaufst einfach einen neuen! Du verschließt keine Zahnpastatuben mehr, du gibst dem Hund nichts zu fressen, nicht einmal die Klospülung benutzt du noch! Alles, alles kaufst du neu!«

Herr Pinke ärgerte sich über ihre Kritik und fuhr den Computer hoch, um sich einen neuen Computer zu kaufen, mit dem er sich eine neue Frau kaufte. Bevor er seine Freunde durch die neuen ersetzt hatte, die über jeden seiner Witze lachten und sich auswärts immer einladen ließen, hatten sie ihm versichert, dass man im Internet nicht alles kaufen konnte, dass es Grenzen gab. Aber genau wie das Universum zu drei Vierteln aus dunkler Materie bestand, bestand das Internet zu drei Vierteln aus Deep Web, zu dem Suchmaschinen keinen Zutritt hatten. Teil des Deep Webs war das Dark Web, und wenn der Preis stimmte, konnte man hier alles kaufen: Sklaven, Kokain, verschollene Gemälde oder Atomsprengköpfe. Er packte Sarinya22 aus Thailand in den Warenkorb und verkaufte Frau Pinke an einen arabischen Ölscheich.

Sarinya22 kam und hatte ein Muttermal im Nacken, aber es lohnte sich nicht, sie zurückzuschicken. Stattdessen entsorgte er sie und bestellte Yulia21 aus Weißrussland. Diese hatte zwar kein einziges Muttermal am ganzen Körper, war jedoch der Meinung, dass sein Gemächt viel zu klein für sie war, weshalb er sich kurzerhand ein neues Genital bei einem Schamanen aus Uganda bestellte und nicht einmal etwas draufzahlen musste, weil er sein altes einschickte und weiße Genitalien in Uganda als Glücksbringer teuer verkauft werden konnten. Yulia21 war zufrieden, aber wie sich herausstellte, war sie nicht mehr ganz neu, weshalb er nacheinander Ava20, Natascha19 und Xia18 kaufte. Je jünger seine Pakete wurden, desto mehr polizeiliche und gerichtliche Bescheide flatterten bei ihm in die Briefkästen. Irgendwann hatte Herr Pinke die Gesetzgebung seines Landes so satt, dass er sich ein neues Land kaufte. Er war schließlich Chef von Pinke & Söhne, der reichsten Bank der Welt. Was war schon ein einzelnes Land im Vergleich zur gesamten Welt?

Doch auch das neue Land befand sich auf dem Territorium eines alten Landes, wo gebrauchte Menschen kaputte Natur benutzten. Bald spielte er mit dem Gedanken, einen neuen Planeten zu erwerben.

»Neue Planet? Nix geben!«, behauptete Mascha17, kurz bevor er sie durch Tatjana16 ersetzte. Aber genau wie das Internet zu drei Vierteln aus Deep und Dark Web bestand, bestand das Universum zu drei Vierteln aus dunkler Materie, und Herr Pinke fand schließlich einen Planeten, der gänzlich neu war. Unberührte Natur, frische Einwohner, keine Baumängel und keine Kaffeeflecken. Alt war lediglich das Geld, das er mitbrachte, denn die Bewohner des Planeten waren zu tugendhaft und zu unbestechlich, um es anzunehmen. Von seinem Geld kaufte er kurzerhand neues, mächtigeres Geld und machte Pinke & Söhne zur reichsten Bank des Universums.

Wie er sich so in seinem nagelneuen Spiegel betrachtete, fand er, dass er viel zufriedener mit sich selbst sein müsste, als er es tatsächlich war. Aber feine Äderchen zogen sich über seinen Nasenrücken, das Weiße in seinen Augen war eher gelb, seine Zähne waren nicht einmal mehr gelb. Er selbst war alt geworden. Herr Pinke fasste einen folgenschweren Entschluss und fuhr den Computer hoch, um sich einen neuen Computer zu kaufen, mit dem er einen neuen Computer kaufte. Im entlegensten Winkel des Dark Webs fand er, wonach er gesucht hatte, und klickte auf Bestellen.

Zwei Wochen später klingelte es und er öffnete die Haustür.

»Guten Tag, Herr Pinke.«

»Guten Tag, Herr Pinke«, erwiderte der neue Herr Pinke. Sie schüttelten Hände und der alte Herr Pinke wandte sich sofort dem Geschäftlichen zu.

»Wie viel?«

»Alles.«

Also gab er ihm alles: das Geld, die Villa, Computer und Handy und Tasse, Sirja15, Kleidung und Schuhe, Limousine und Fahrer und Limonadenkühlschrank. Zuletzt übergab er ihm die Bank. Der neue Herr Pinke verschwand im Haus und schmiedete bereits Pläne, das gesamte Universum neuzukaufen, aber der alte Herr Pinke stand in Unterwäsche auf dem Gehsteig und fragte sich, warum er es nicht selbst getan hatte. Die vom neuen Geld verdorbenen Passanten tuschelten hinter hervorgehaltener Hand über den scheinbar verwirrten Mann und er sah ein, dass ihn nichts mehr auf diesem Planeten hielt. Also reiste er zurück zur Erde und weil er nichts mehr hatte außer seinen vom Alter gezeichneten Körper, schlief er unter freiem Himmel und lebte von dem, was die Leute wegwarfen.

Eines Tages fand er in einer Mülltonne eine mit Enten verzierte Tasse und dazu den passenden Henkel. Er ging in ein Haushaltswarengeschäft und weil sich der Inhaber an ihn erinnerte und Mitleid mit ihm hatte, schenkte er ihm eine kleine Tube Keramikkleber. Der Henkel saß bombenfest. Im Müllcontainer hinter dem Textilgeschäft fand er schmutzige Kleidung, und siehe da, der Schmutz ließ sich im Fluss herauswaschen. Während Hemd und Hose im Wind trockneten, reparierte er ein gefundenes Handy. Ein Chip hatte sich gelöst und ließ sich mit einem Feuerzeug leicht wieder anbringen. Sein ehemaliger Fahrer Ricco, der mittlerweile ebenfalls aus Mülltonnen lebte, kam vorbei und fragte ihn, was er da mache.

»Ich repariere«, erklärte Herr Pinke mit Tränen in den Augen. Das Gefühl, etwas Kaputtes zum Laufen zu bringen, war besser als das Gefühl des Neukaufens. Ricco schleppte einen weggeworfenen Computer herbei, sie spielten ein neues Betriebssystem auf und er funktionierte wieder.

Sie gründeten ein Reparaturunternehmen und reparierten Kühlschränke und Fahrzeuge, bald darauf verschollene Gemälde und Atomsprengköpfe. Herr Pinke kaufte sich ein neues Haus, wo er sein Klingelschild festschraubte, den Rasen mähte und Fledermäuse unterm dem Dach wohnen ließ, welche die Wespen vertilgten. Er verschloss seine Zahnpasta, benutzte die Klospülung und fütterte den Hund. Der Rechtsapparat des Staates, in dem er nun wieder gerne lebte, wollte ihn noch immer wegen Menschenhandel und Geschlechtsverkehr mit Minderjährigen verurteilen, aber er verwies sie an den neuen Herrn Pinke, der jedoch nicht in Gewahrsam genommen werden konnte, weil er mittlerweile in einem neuen Universum lebte.

Er nahm Kontakt zu seinen alten Freunden auf, die nicht über seine Witze lachten und sich auswärts nicht von ihm einladen ließen. Er entschuldigte sich bei ihnen, sie verziehen ihm und lauschten gebannt seinen Erfahrungen, die er im Dark Web gemacht hatte. Sogar den Schamanen aus Uganda konnte er ausfindig machen, der sein Gemächt all die Jahre lang selbst um den Hals getragen hatte, auch wenn es ihm kein Glück gebracht hatte, nur den Spott seines mittlerweile globalisierten Dorfes. Es gelang Herrn Pinke, den Schamanen davon zu überzeugen, ihm das vertrocknete Ding zu überlassen, und es brachte ihm Glück, denn er verkaufte seine Anteile des Reparaturunternehmens an Ricco und gründete vom Erlös eine Bank, welche schnell die zweitreichste Bank des Universums wurde.

»Wieso denn nur die zweitreichste?«, fragte er seine neue alte Sekretärin Fräulein Asche, »Pinke & Söhne ist doch gar nicht mehr Teil unseres Universums.«

Fräulein Asche nannte ihm den Namen der reichsten Bank des Universums, Pulver & Töchter, und hackte wieder auf ihren Laptop ein.

Herr Pinke flog nach Arabien, um den Geschäftsführer der Bank zur Rede zu stellen. Es war Frau Pinke, die inzwischen wieder Frau Pulver hieß. Sie hatte nach dem frühzeitigen Tod ihres Ölscheichs dessen gesamtes Vermögen geerbt und ihr Händchen für Finanzen entdeckt. Er fiel vor ihr auf die Knie und weinte bittere Tränen, dass sie ihm vergeben möge, und Frau Pulver verzieh ihm, weil auch sie mittlerweile die eine oder andere Zahnpastatube nicht zuschraubte und öfters ein neues Haus kaufte, um nicht den Klempner rufen zu müssen. Herr Pinke erhob sich und sie wischte ihm mit dem Ärmel die Tränen von den Wangen. Sie küssten sich und mit ihren Lippen verschmolzen auch ihre beiden Banken zu einer. Pinke & Pulver sollte nach ihrer erneuten Hochzeit in Pinke & Pinke umbenannt werden. Vor dem Altar schwor sich Herr Pinke: Solange der Henkel an der Ententasse hielt, wollte er nie, nie wieder etwas neukaufen.

© 2016 Anton Hoyer

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